Freitag, 1. Februar 2019

Motivation und das Problem mit passiven Protagonisten


Quelle: Pexels

Wenn wir uns an unsere Lieblingsgeschichten erinnern, sind es meistens die schillernden Charaktere, die uns in Erinnerung geblieben sind, mehr noch als die Handlung. Unvergesslich sind Figuren wie Miss Marple, Prof Dumbledore oder Hannibal Lector. Wir Leser sind emotionale Wesen, wir lesen, um auf eine gefühlsbetonte Reise mitgenommen zu werden, um mitzuleiden und mitzufiebern. Großartige Charaktere halten uns den Spiegel vor Augen oder zeigen uns das Spektrum menschlicher Erfahrungen.

„Characterization is about a writer`s grasp of what a human being is“ - Andrew Miller


Wer unvergessliche Figuren schreiben will, muss sich für die Psyche des Menschen interessieren. Warum handelt jemand so wie er es tut, wieso reagiert jeder anders auf dasselbe Ereignis, was treibt einen an und wie wurde man von Ereignissen im eigenen Leben geprägt?
Seit der Erfindung der Psychologie durch Sigmund Freud beschäftigt man sich ausführlich mit der Frage, wie eine Person tickt, und es schadet nicht, sich mit den Theorien und Grundlagen der modernen Psychologie zu beschäftigen. 

Jeder Mensch sieht die Welt durch andere Augen. Geprägt durch seine Erfahrungen, Vorurteile, Weltanschauung, Temperament, Ängste und Ziele. Du kannst nur wissen, wie deine Figur auf Ereignisse reagieren wird, wenn du ihre Einstellung kennst. Zwei Figuren, die dasselbe Ziel verfolgen, würden komplett unterschiedlich auf dasselbe Ereignis reagieren. Nehmen wir z.B. eine Kassiererin im Supermarkt, die Feierabend machen will und die Kasse bereits geschlossen hat, als noch ein Kunde kommt. Wird sie freundlich lächeln und die Kasse noch einmal eröffnen oder wird sie den Kunden schroff abweisen? Das hängt nicht nur davon ab, ob sie ein freundlicher oder ungeduldiger Mensch ist, sondern auch von ihren persönlichen Umständen. Vielleicht wartet ein hungriges Kind auf sie zuhause oder sie hat einen strengen Chef im Nacken … Charaktere existieren nicht in einem Vakuum.

Einen unvergesslichen Charakter zu erschaffen, bei dem der Leser mitfiebert, bedeutet nicht unbedingt, ihn „sympathisch“ zu machen. „Sympathisch“ wird in diesem Zusammenhang oft missverstanden, steht es doch im Sprachgebrauch dafür, dass wir jemanden „nett“ finden. „Er ist nett“, sagen wir häufig über Leute, wenn uns nichts zu ihnen einfällt und wir sie langweilig finden. „Sympathisch“ bedeutet, dass der Leser sich in die Figur hineinversetzen kann, aber nicht unbedingt, dass diese „nett“ ist. Im Gegenteil, viele große Romane der Literatur drehen sich um Hauptfiguren, die ganz und gar nicht nett sind: Um Diebe, Lügner, Betrüger, Fanatiker und Mörder. Wir als Leser mögen es, uns in eine Figur hineinzuversetzen, die ganz anders ist als wir selbst. Wir lesen solche Geschichten, um mehr über die menschliche Psyche zu erfahren, um in die Abgründe menschlichen Verhaltens und Denkens zu blicken. Damit man weiterliest, ist es außerordentlich wichtig, dass der Leser sich in die Hauptfigur hineinversetzen kann. Für manche bedeutet das, dass sie am liebsten Geschichten über Figuren lesen, die ihnen selbst am ähnlichsten sind. Sobald eine Figur anders handelt oder reagiert, als sie es tun würden, werden diese Leser wütend und steigen aus der Geschichte aus. Diesem Leser kann man es nicht recht machen, kein Autor kennt sein Publikum im Vorhinein und kann Geschichten schreiben, die allen gerecht werden.
Dafür werden Geschichten nicht erzählt.
Geschichten sind eine Metapher über das Leben und lehren uns Leid und Freud der menschlichen Existenz. Großartige Charaktere, jene an die wir uns noch Jahre oder Jahrzehnte erinnern werden, sind Helden mit Makeln. Es sind eben jene Frauen oder Männer, die weder perfekt noch heillos chaotisch sind, sondern eine faszinierende Mischung aus Stärken und Schwächen, voller Potential uns und sich zu überraschen. Vielschichtige Charaktere sollten mit sich selbst im Konflikt stehen.
Wie erreicht man also, dass die Leser sich in Figuren hineinversetzen, auch wenn diese nicht sympathisch sind und ganz anders als wir?

Wir haben uns ja schon das Want & Need einer Figur angeschaut (das äußere Ziel und das innere Bedürfnis, die häufig im Gegensatz zueinander stehen), also dem Zwiespalt zwischen das, was sie wirklich sind, und der Fassade, die sie versuchen aufrechtzuerhalten. Zusätzlich können Charaktere eine ganze Reihe anderer Eigenschaften zeigen, die sie in Schwierigkeiten bringen oder ihnen das Leben schwer machen. Sie können gleichzeitig liebende Familienväter aber grausame Schlägertypen sein, ambitionierte Geschäftsleute und schlecht im Umgang mit Finanzen, geniale Wissenschaftler und tief religiös. Je mehr sie mit sich selbst im Konflikt stehen (und mit anderen) desto interessanter sind sie. Je mehr solcher widersprüchlicher Gegensätze wir einer Figur andichten, desto mehr Dimensionen hat diese. Das ist gemeint, wenn wir von mehrdimensionalen Figuren reden. 

Nebenfiguren


Nebenfiguren haben häufig weniger oder sogar gar keine Dimensionen, wenn sie nur dem Zweck dienen, die Handlung voranzutreiben, so werden sie häufig als Archetyp dargestellt, und basieren auf Klischees. Das ist in Ordnung für Nebenfiguren, wie z.B. dem Barkeeper, der auch unter dem Tresen mit Drogen handelt und in der Geschichte nur die Information liefern soll. Für Nebenfiguren, die eine Rolle im Leben der Hauptfigur spielen, die wichtig für die Handlung sind oder gar einen eigenen Erzählstrang bekommen, braucht es natürlich dieselbe Sorgfalt beim Ausarbeiten wie bei der Hauptfigur. Das bedeutet, dass auch die Nebenfiguren ein eigenes Want & Need (Ziel und Bedürfnis) bekommen, und dass ihnen weitere (widersprüchliche) Dimensionen hinzugefügt werden.
Achtung: Jede weitere Dimension führt zu Konflikten in der Welt oder mit den anderen Figuren, was zu eigenen Erzählsträngen führen kann. Um zu verhindern, dass Nebenfiguren interessanter werden, als die Hauptfigur oder sogar den Plot übernehmen, sollte man unbedingt darauf achten, dass ihr want & need mit dem Hauptplot verbunden ist (wenn man sich nicht auf eine Nebengeschichte einlassen will). Grundsätzlich sollten Nebenhandlungen dazu da sein, das Thema von einer anderen Seite zu beleuchten. (siehe: Die B-Story offenbart das Thema)

Das bedeutet, dass wenn die Hauptfigur rachsüchtig ist, die Nebenfigur Vergebung predigt, oder die Hauptfigur auf der Suche nach der wahren Liebe, die Nebenfigur eine Vernunftehe eingegangen hat, und glücklich damit ist. Die Nebenhandlung ist essentiell für die Wandlung der Hauptfigur und stößt die Handlung am Ende in den 3. Akt, wie wir am Plotmodell nach Blake Snyder gesehen haben (Wendepunkt II das Herz deiner Geschichte). Deshalb ist es wichtig, den Wandlungsbogen, den die Hauptfigur durchmachen wird im Auge zu behalten. Martha Alderson,  „The Plotwhisperer“ bezeichnet dies als „Character emotional development plot“ und hat ausführliche Anleitungen in ihrem Buch "Secrets of Story Structure any Writer can master"* dazu. Wird die Hauptfigur ihr Ziel am Ende erreichen oder fallen lassen? Werden sich ihre Wünsche erfüllen oder ihre Ängste wahr werden? Wie auch immer es ausgeht, die Hauptfigur ist am Ende nicht mehr dieselbe, die sie am Anfang war, und die Leser gehen mit neuer Erfahrung aus der Geschichte heraus. Erfahrungen, die sie im echten Leben evtl. nicht machen würden, was das Lesen so wertvoll macht. Nicht umsonst wurde wissenschaftlich belegt, dass Romanelesen die Empathie fördert.

Motivation


Wachstum und innere Wandlung sind nicht ohne Reibung möglich, in Fakt sperren wir uns sogar gegen jegliche Änderungen, weil wir unsere Komfort-Zonen nicht verlassen und keine Risiken eingehen wollen. Dies ist sogar ein genetisch von der Evolution verankertes Verhalten, denn um das Überleben zu sichern, wollen wir möglichst den Status Quo aufrechterhalten (wenn dieser bedeutet, dass wir wohl umsorgt sind), Energie sparen (man weiß ja nie, wann es wieder was zu futtern gibt) und uns keiner Gefahr aussetzen (in der sicheren Höhle bleiben, denn draußen lauern Raubtiere.) Es braucht also oft etwas mehr als ein bloßes Ziel, die Hauptfigur braucht einen Anschub (Inciting Incident) und Motivation.

Es ist ja schön, wenn deine Hauptfigur davon träumt, eine berühmte Sängerin zu werden, aber wenn sie dann den Aufruf zu einem Casting sieht und sich nicht traut hinzugehen, wird das Abenteuer im Keim erstickt.

Leser lieben aktive Protagonisten. 

Wir lieben Figuren, die einen Traum haben und ein Ziel verfolgen — egal, was es ist. Vielleicht, weil wir selbst im wahren Leben nur allzu oft einen Wunsch nicht verfolgen und unsere Träume aus den Augen verlieren, lieben wir es, von Figuren zu lesen, die ihr Ziel um jeden Preis verfolgen.
Dabei ist es beinahe egal, was das Ziel ist. 

Sicher, eine Figur, die die gleichen oder ähnliche Träume verfolgt wie wir selbst, mag zu einer höheren Identifikation bei uns führen. Aber eine Figur, die vielleicht ein Ziel hat, dass unmoralisch oder sogar bösartig ist, mag uns genauso faszinieren. Wir fiebern fast automatisch mit, wenn ein Charakter in einem Film oder Buch etwas will und wünschen ihm von Anfang an gutes Gelingen. Erst recht, wenn diese Figur aus einer Außenseiter- oder Verliererposition heraus startet und Fehler und Schwächen zeigt. In der Serie „Breaking Bad“ begegnen wir z. B. einem High-School-Lehrer, der in seinem Chemie-Labor Meth kocht. Können wir das gutheißen und mit dieser Figur mitfiebern? Interessanterweise schon, denn Walter White wird uns am Anfang als Außenseiter präsentiert, der von seinen Schülern und Mitmenschen ausgelacht und nicht ernstgenommen wird, und der die tödliche Diagnose Krebs bekommt. Alles, was er will, ist genügend Geld mit den Drogen zusammenzubekommen, um seiner Frau und seinem behinderten Sohn ein schuldenfreies Leben nach seinem Tod zu ermöglichen. 

Ein Trick also ist es, die Hauptfigur sowohl als guten Menschen zu präsentieren oder zumindest als eine Person, die Gutes will (die Familie versorgen). Blake Snyder nennt dies „Save the Cat“ und meint, dass man seine Figur ganz am Anfang eine Katze aus einem Baum retten lassen soll, damit die Zuschauer ihn mögen (also bei einer guten Tat zeigen soll.)
Oder man kann stattdessen seine Hauptfigur in einer Situation zeigen, die Mitleid beim Zuschauer erzeugt (ausgelacht, gedemütigt oder vom Pech verfolgt z. B.). Hat man die Leser ersteinmal emotional am Haken, wird er mitfiebern, auch wenn die Figur unmoralisch, egoistisch, kriminell oder verwerflich handelt. Wir wollen, dass die Figur Erfolg hat.  Wir gönnen Walter White die Millionen, die er mit seinem Drogengeschäft scheffelt.

Allzu oft lese ich in Manuskripten von passiven Protagonisten, die in ihrer Haltung verharren, innere Monologe führen, aber die Handlung nicht vorantreiben. Z. B. bei der (von Verlagen abgelehnten) Liebesgeschichte, bei der die Hauptfigur in einer missbräuchlichen Beziehung mit ihrer Mutter feststeckte, bei der es auch um körperliche Gewalt ging, die ihrer Mutter im Alltag aber hauptsächlich auswich und nichts unternahm, bis ein Fremder sie rettete.
Eigentlich waren alle Zutaten für eine gute Geschichte da: der Hauptkonflikt um einen Missbrauch, eine starke Antagonistin, viel Platz für Charakterwachstum und Ziel & Bedürfnis der Hauptfigur (der Mutter zu entkommen und das zerstörte Selbstwertgefühl zu heilen). Woran es der Figur aber mangelte, war der Wille, auch zu handeln.

Wie also baut man funktionierende, handelnde Hauptfiguren?


Handlung braucht einen Charakter, der willentlich und aktiv ein Ziel gegen alle Hürden und Hindernisse verfolgt. Das gilt für alle Genres.
Das Wort Protagonist stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet nicht umsonst "Der Erste" und "ich handle, bewege, führe". Der Protagonist ist also jene Figur in einer Geschichte, die am meisten handelt und die Ereignisse vorantreibt. 
Vielleicht ist es realistisch, dass ein von der Mutter misshandeltes, minderjähriges Mädchen nicht einfach wegläuft oder die Behörden einschaltet. Vielleicht braucht es, wie in meinem oben genannten Beispiel, den Beistand eines Fremden, um das Mädchen zu retten. In dem Fall aber würde ich sagen, dass ihr Zusammentreffen mit dem Fremden der Inciting Incident ist, der das Mädchen zum Handeln bewegt und die Handlung ins Rollen bringt. Wie genau sie dann den Klauen ihrer Mutter entkommt und wie sie es schafft, sich emotional von dem Missbrauch zu lösen, das ist die wahre Geschichte. Die ersten hundert Seiten könnten also weggekürzt werden und die Handlung da beginnen, wo das Manuskript aufgehört hat.
Oft scheuen Autoren davor zurück, ihre Figuren leiden zu lassen oder in schwierige Situationen zu bringen. Dabei braucht es aber Herausforderungen und Widerstände, um dramatische Handlung zu erschaffen. Nur unter Druck und in schwierigen Situationen zeigt sich der Charakter der Figur.

Scheut euch nicht, sie diesen auszusetzen!

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