Freitag, 31. August 2018

Charaktererstellung Teil I: Der Protagonist



 
Quelle: Pexels

Ein sehr wichtiger Teil des Geschichten-Erzählens ist zweifelsohne die Erschaffung von unvergesslichen, lebendig wirkenden Figuren. Wie aber macht man das, wie erschafft man einen Charakter, den Leser ins Herz schließen und mit dem sie über hunderte von Seiten mitfiebern?

Teil 1: Protagonist 


Wir beginnen mit dem Protagonisten, natürlich, und gehen dann weiter über den Antagonisten, zu den Nebencharakteren und unterhalten uns über die Zusammenstellung des Figurenensembles. Denn alle Geschichten beginnen und enden mit einer Hauptfigur, die auf innere und äußere Zwänge reagiert. Die Hauptfigur ist die komplexeste Rolle in deiner Geschichte. Alle Nebenfiguren spiegeln eine Facette deiner Hauptfigur wider (vor allem der Antagonist, aber dazu später mehr).

Wie also erschafft man eine Hauptfigur?


Wo findet man Inspirationen für neue, originelle Charaktere? Manchen Autoren fällt als allererstes eine Figur ein, über die sie schreiben wollen. Sie haben ein Bild oder Gefühl für einen Charakter im Kopf, sehen ihn vielleicht sogar vor sich oder hören seine Stimme, und von dieser allerersten Inspiration aus kreieren sie die Handlung um diese Figur herum. J.K. Rowling soll während einer verspäteten Zugfahrt plötzlich einen Jungen im Zaubermantel vor sich gesehen haben, von dem sie nur eines wusste: Dass er auf dem Weg zu einer Zaubererschule war, und dass sein Name HARRY POTTER lautete.


Wir können mit Sicherheit sagen, dass es so ist: Manchmal marschieren Charaktere einfach in unser Leben und lassen uns nicht mehr los.
Charaktere können aber auch von echten, lebenden Menschen um uns herum inspiriert werden, die man beobachtet oder gut kennt, und die ein interessantes Leben führen oder ein außergewöhnlichen Beruf ausüben oder merkwürdige Ticks haben. Vielleicht schnappen wir an der Supermarktkasse einen Gesprächsfetzen auf oder du fragst dich, was der Mann mit dem Lederkoffer ganz allein im Zug nach Paris zu suchen hat. Vielleicht möchtest du aber auch einfach nur über einen Geheimagenten oder einen Zauberlehrling oder ein krebskranke Mutter schreiben. Deine Charakteridee deutet dabei schon das Genre und die möglichen Arten des Hauptkonfliktes an.
Anderen Autoren fällt als erste Inspiration aber eher Situationen, Probleme und Konflikte ein: Das, worum es in der Handlung gehen soll. Nun brauchen sie für diesen Konflikt die passende Hauptfigur. Und diese kann man sich „bauen“, indem man anfängt, Eckdaten für eine passende Figur aufzulisten (Alter, Beruf, Familienstand, Aussehen, Hobbies usw.) und diese im Laufe der Zeit immer mehr ausfüllt.
Es ist nicht nötig, so eine Liste im Vorneherein bis ins Detail auszufüllen. Solche Charakterbögen können aber nützlich sein, wenn man sie beim Schreiben weiter ausfüllt, um einen Überblick zu behalten, besonders bei Serien und Werken mit einem hohen Figurenpersonal. Ich würde dazu raten, sich eigene Charakterbögen anzulegen mit den Daten, die man braucht, und diese je nach Projekt anzupassen (Fantasy/ SciFi braucht andere Merkmale als Gegenwarts-Charaktere z.B.). 

Einen solchen Charakterbogen von SCRIPTDOKTOR findet ihr HIER zum kostenlosen DOWNLOAD.

Bei all den Details, die man sammelt, muss man aber im Auge behalten, dass die Figur zum Hauptkonflikt passen soll. Sprich ein Kriminalfall, der gelöst werden soll, braucht einen willigen Detektiv, eine Liebesgeschichte einen Junggesellen und die Zaubererschule einen Jungen mit wenig Erfahrung in der magischen Welt. Kleidung, Aussehen, Hobbies sind nur schmückendes Beiwerk, was viel wichtiger ist, ist die Motivation der Hauptfigur, am Plot teilzunehmen, mit anderen Worten das WANT & NEED.
Früher oder später muss man sich über die Innenwelt einer Figur Gedanken machen, ihre Ängste, Träume, Weltanschauungen und Psychologie. Wir haben uns ausgedacht, wer die Figur ist (z.B. ein Geheimagent), wie sie aussieht, wo sie lebt und wie ihr beruflicher Werdegang bisher war, aber all das ergibt nur ein Abziehbild, eine austauschbare Figur, eine Fassade.

Wer ist die Hauptfigur wirklich?


Jetzt ist es an der Zeit, die vielen Schichten der Persönlichkeit des Charakters auf den Grund zu gehen.
Menschen sind sehr komplexe Individuen, voller Widersprüche und unkontrollierbarer Emotionen. Niemand ist einfach nur gut oder böse, so wie niemand einfach nur faul oder fleißig ist, voller Mitgefühl oder grausam. Jeder von uns hat das breite Spektrum aller menschlichen Gefühle und Emotionen in sich und ist in der Lage, zu Höchstleistungen aufzusteigen wie auch zu unvorstellbar egoistischen und hinterhältigen Taten fähig zu sein. Und bei allem, was wir tun, sind wir auch noch in der Lage, die eigenen Taten und Gefühle zu hinterfragen und zu analysieren. Wir mögen das eine sagen, doch das andere denken. Das eine für richtig halten, doch das andere tun. Und das ist nur die bewusste Schicht, darunter lauert, wie Siegmund Freud postuliert hat, das Unterbewusste mit seinen Trieben, Instinkten und Reflexen. Wer kennt sich schon selbst so genau, geschweige denn seinen besten Freund oder Lebenspartner?
Und doch ist es das, was ein Autor tun muss: Seine Hauptfigur in- und auswendig kennen. Er kennt die tiefsten Ängste, die geheimsten Gedanken und verborgenen Sehnsüchte seiner Figur und weiß, wie sie in einer bestimmten Situation handeln wird.
(Manchmal jedoch überrascht die Figur sogar den Autor. Kreativität verläuft bei jedem anders, und manche wollen ihre Figuren beim Schreiben entdecken. Das ist in Ordnung! Es ist sehr bereichernd, wenn die eigenen Figuren auf einmal „zum Leben erwachen“ und Dinge tun und sagen, die der Autor nicht gewollt hat. Dann kann man nichts weiter tun, als die Finger auf der Tastatur lassen und mitschreiben, was die Stimme einem diktiert. In Wahrheit hat hier nur das Unterbewusstsein des Schriftstellers die Regie übernommen, und das ist gut so. Niemand ist kreativer, als das Unterbewusstsein, wie wir später noch sehen werden.)
Besonders in Romanen, die in der Ich-Perspektive geschrieben werden, kennt und erforscht der Autor seine Hauptfigur bis in die Tiefe. Denn was ist der Roman in der 1. Perspektive anderes als ein sehr langer Monolog des Protagonisten mit sich selbst/ mit dem Leser? Deshalb sind Ich-Erzähler häufig „Unreliable Narrators“. Sie lügen, verschweigen, beschönigen in ihrer Erzählung die Ereignisse, denn sie sehen alles durch ihre eigene Linse und schämen sich vielleicht für ihre Taten, sind unehrlich gegenüber sich selbst und kennen vielleicht sogar ihre eigene, wahre Motivation nicht. (Aber genau durch ihre Auslassungen und Beschönigungen verrät die Figur sich selbst, der Leser versteht im Subtext das wahre Gesicht der Figur.)
Beim Lesen einer Geschichte stellen die Leser sich häufig die Frage: „Wenn ich in derselben Situation wäre, was würde ich tun?“ Aus dieser Haltung beim Lesen heraus, empfinden sie Mitleid, Sympathie oder Antipathie einer Figur gegenüber.
Der Autor stellt sich beim Schreiben dieselbe Frage, nur dass er sich nicht fragt, was er selbst in dieser Situation tun würde (Autoren sind selten heldenhaft oder mutig wie ihre Figuren), sondern wie diese spezifische Figur reagieren wird und soll. Einerseits soll die Figur auf eine bestimmte Art und Weise reagieren und damit die Handlung vorantreiben (Der Privatdetektiv soll den Fall annehmen), andererseits muss die Figur eine innere Motivation haben, dieses handlungstechnisch Wichtige auch zu tun. Das WANT und NEED der Figur muss zu der Handlung passen.
Am Anfang der Handlung hat die Hauptfigur bereits eine Vorstellung davon, wie sie ihr Leben führen möchte, sie hat Träume und Ideale und versucht, diese zu erreichen. Doch dann stellt ein Ereignis das bisherige Leben auf den Kopf und ihre Lebensweise in Frage: Der Catalyst oder Inciting Incident.


Im Folgenden beeinflussen die Entscheidungen und Taten der Hauptfigur die Handlung. Das ist es, was sie zur Hauptfigur macht: Sie reagiert nicht nur auf die Ereignisse, sie beeinflusst diese (passive Figuren vs. aktive Figuren).
Das Ziel/ die Motivation (Want) der Hauptfigur bestimmt, welche Entscheidungen sie trifft und wie sie handelt. Keine Szene, kein Dialog, kann geschrieben werden, ohne dass der Autor weiß, was die Hauptfigur will, denn dieses beeinflusst, wie sie reagieren wird. Ohne Ziel hat die Figur keine Motivation, etwas zu unternehmen.
Zwar wird das individuelle Ziel einer einzelnen Szene variieren, aber dieses sind nur Teilerfolge oder Rückschläge auf dem Weg zu einem großen, endgültigen Ziel.

Was ist das Ziel der Hauptfigur? Das WANT


Diese Frage ist oft gar nicht so leicht zu beantworten. Meist fällt dem Autor zunächst eine ganze Liste an Zielen für seine Hauptfigur ein: Sie möchte Frieden, ihre wahre Liebe finden, Erfolg im Beruf, Selbstfindung und kreative Erfüllung, ein schönes Haus, Gesundheit und Kinder …
Eine solche Liste hilft dem Autor nicht weiter, denn all diese Ziele sind nicht mit dem Hauptkonflikt verbunden. Genau wie im richtigen Leben saugt eine Vielzahl an Zielen die Energie aus einem Menschen und sorgt dafür, dass er am Ende gar nichts erreicht. Eine gut geschriebene Geschichte fokussiert sich auf ein einziges zentrales Ziel, für das die Hauptfigur all ihre Energie aufwendet. Bis man nicht ein klares Ziel für die Hauptfigur formuliert hat, das mit dem Hauptkonflikt verbunden ist und entweder dasselbe oder das Gegenteil dessen bedeutet, was der Antagonist will, kann man keine Szenen schreiben, die die Handlung vorantreiben.
Das Ziel muss in manchen Fällen bereits vor dem Inciting Incident existiert haben, aber meistens beginnt es dort. Etwas passiert, dass das bisherige Leben der Hauptfigur auf den Kopf stellt; die Hauptfigur muss die Initiative ergreifen, um ihr Leben wieder in Balance zu bringen. (Möglicherweise weiß die Hauptfigur nicht sofort, was ihr Ziel ist, sondern braucht noch bis zum Break in Act II, um es herauszufinden.)
Je nach Genre ist dieses Ziel sehr unterschiedlich, es kann ein physisches Objekt sein, wie Geld, oder ein Artefakt oder ein Computercode, manchmal ist es eine Person — eine Geliebte, ein Feind, ein Täter — oft aber etwas Metaphysisches, wie Rache, Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit.
Der Leser spürt, welches Ziel die Hauptfigur verfolgt, selbst wenn es nicht explizit ausgesprochen wird. Dennoch ist es wichtig, dass keine Unklarheit über das Ziel des Protagonisten nach dem Break in Act II besteht.
(Das zentrale Ziel kann sich im Laufe der Handlung ändern, wenn neue Informationen oder Ereignisse das ursprüngliche Ziel unmöglich machen, jedoch dienen diese noch immer demselben Zweck.)
Wenn du Probleme hast, das Ziel des Protagonisten zu benennen, oder es während des Schreibprozesses aus den Augen verlierst, dann liegt es daran, dass du zu viele Ziele hast. Ist es Liebe oder Rache? Frage dich: Mit der Erfüllung welchen Ziels würde die Geschichte enden? Wenn sie ihre wahre Liebe gefunden hat, oder erst wenn Rache geübt wurde? Kann eines von beiden Zielen unerfüllt bleiben und deine Geschichte sich dennoch beendet anfühlen? Sollte sie beide Ziele erfüllt haben und die Geschichte fühlt sich immer noch nicht zu Ende an, dann hast du das wahre Ziel der Figur noch nicht gefunden — In Wahrheit basiert ein äußeres Ziel nämlich immer auf einem unterbewussten Bedürfnis (NEED).


Was braucht die Hauptfigur? Das NEED


 Bei komplexen Charakteren löst der Inciting Incident zwei Ziele aus: Das WANT und  das NEED (das äußere + innere Ziel/ Bedürfnis).
Ein unterbewusstes Bedürfnis steht oft im Gegensatz zu einem bewusst verfolgten Ziel. (Darum sind wir Menschen ja so komplizierte Charaktere, die selten sagen, was sie meinen.) Oft glauben wir, etwas aus einem bestimmten Grund heraus haben zu wollen, aber in Wahrheit entspringt dieser Wunsch einem tiefen, unerfüllten Bedürfnis, einer Angst oder einem inneren Mangel. Wir wollen Geld, aber sehnen uns nach Liebe. Wir wollen Erfolg, aber es mangelt uns an Selbstbewusstsein. Damit der Leser dieses unterbewusste Bedürfnis spürt, sollten das äußere und innere Ziel in krassem Gegensatz zueinander stehen. Je tiefer die Wunde, je widersprüchlicher der Kontrast, desto interessanter die Figur und desto mehr wird die Handlung eigentlich von diesem starken inneren Bedürfnis der Hauptfigur angetrieben. Das Unterbewusstsein hat mehr Macht über unsere täglichen Handlungen als wir glauben.
Und dieses innere Bedürfnis, das oft einem Trauma, einer schlechten Erfahrung oder einer inneren Wunde entspringt, muss im Showdown von der Hauptfigur überwunden werden, wenn sie dem Antagonisten gegenübersteht.
Der Kampf um das Bewusstwerden und Überwinden dieses Makels, des inneren Bedürfnisses, ist die notwendige Wandlung der Hauptfigur.
Im wahren Leben ändern wir Menschen uns selten — oder plötzlich und scheinbar ohne erkennbaren Grund oder Warnung. Die Figuren in einem Roman sind aber keine Menschen: Sie sind Kunstwerke, Metaphern für das, was den Menschen ausmacht. Schriftsteller erschaffen Figuren, damit der Leser einen Einblick und ein tieferes Verständnis in die Menschlichkeit bekommt, und die Figuren wandeln sich am Ende, um eine Geschichte über das Überwinden unserer schlimmsten Fehler und Ängste zu erzählen. Deswegen lieben wir Geschichten.

Deshalb spiegelt der Antagonist immer die Gegenseite des Protagonisten wider.

Mehr über das Need der Hauptfigur beim nächsten Mal.