Samstag, 27. Oktober 2018

Charaktererstellung Teil II: Das Bedürfnis (NEED) der Hauptfigur


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Der Inciting Incident (auch Catalyst genannt) ist ein Ereignis, der das Leben des Protagonisten auf den Kopf, ihn vor eine Herausforderung oder Bedrohung stellt, oder der ihm eine Chance bietet. Von da an verfolgt der Protagonist ein Ziel (das WANT), und um es zu erreichen, muss er alle Hürden überwinden und sich dem Antagonist (oder der antagonistischen Kraft, wie z.B. einer Naturkatastrophe) entgegenstellen, bis zum Ende der Geschichte, wo im Showdown die Hauptfigur ihr Ziel entweder erreicht, aufgibt oder verliert. Dies ist die äußere Handlung der Geschichte, der Plot.


Was ist Plot und wie plottet man einen Roman?

Im Inneren führt die Hauptfigur aber noch einen anderen Kampf: Die Hauptfigur trägt einen Makel oder ein Bedürfnis, eine Wunde oder ein Trauma in sich; etwas fehlt ihr, ein kritischer oder essentieller Teil, um sie selbst sein zu können. Die Handlung der Geschichte, der Weg, den die Figur einschlagen muss, gibt dem Protagonisten eine Chance, diese Lücke in ihrer Persönlichkeit zu füllen und zu ihrem wahren Selbst zu werden (NEED).

 

Was ist das NEED der Hauptfigur?


Die meisten Autoren starten mit einer ziemlich genauen Vorstellung, wer ihre Hauptfigur ist, wie sie denkt und fühlt, und wie sie in verschiedenen Situationen reagieren wird. Der Fehler, den Anfänger-Autoren häufig machen, ist aber, dass sie es versäumen, ihre Figuren mit Situationen zu konfrontieren, die diese zwingen schwere Entscheidungen zu treffen. Die Taten der Figur machen diese für den Leser lebendig und definieren, wer er ist. „Sympathische“ Figuren, in die der Leser sich hineinversetzen kann, tragen die Handlung nur, wenn sie den Hauptkonflikt verkörpern.
Zum Beispiel leidet Rocky im gleichnamigen Film an einem mangelnden Selbstwertgefühl. Er verachtet das Leben, das er führt, und hasst sich selbst. Als er die Chance bekommt, gegen den Box-Champion Apollo Creed anzutreten, trainiert er hart und kämpft einen verbissenen Kampf. Aber er verliert dennoch nach Punkten. Zwar wird Rocky nicht Champion — aber die Zuschauer feiern ihn wie einen Helden, weil er der Erste ist, der 15 Runden gegen Apollo durchgestanden hat. In dem Moment erfüllt sich Rockys Bedürfnis nach Selbst-Respekt. Er ist nicht länger ein unbedeutender Niemand (und kann seine Liebe Adrian für sich gewinnen).
Am Anfang einer Geschichte kennt nur der Autor das unterbewusste Bedürfnis (NEED) der Hauptfigur. Wenn es soweit ist, kann der Autor dem Leser das Bedürfnis enthüllen, oder er lässt es verschleiert. Selten wird sich jedoch die Figur ihrer wahren Motivation bewusst. Wenn, dann kann dies nur am Ende der Geschichte geschehen, denn sobald die Figur sich dessen bewusst wird, würde sie ihr Ziel fahren lassen und dieses als neues Ziel verfolgen. Wird das Bedürfnis zu schnell erfüllt und die Leere in der Hauptfigur gestillt, so haben wir eine zufriedene Hauptfigur, die keine weiteren Ziele mehr verfolgen wird, und nicht versuchen wird, über sich selbst hinauszuwachsen. Diesen Fehler sehe ich häufig bei Liebesromanmanuskripten, in denen die Liebenden zu schnell  zueinanderfinden, sich ihr Herz ausschütten, so dass ihre Sehnsucht bereits gestillt ist.
Deswegen hängen Plot + Hauptfigur untrennbar zusammen: Der Autor entwirft eine Geschichte, die die Hauptfigur zwingt, sich ihren eigenen Dämonen zu stellen, er stellt sie vor Herausforderungen, die sie über sich selbst hinauswachsen lassen, und gibt ihr die Chance, die Leere in sich zu erkennen und zu füllen.
Dies ist die Wandlung, die die Hauptfigur durchmachen muss.
Natürlich ist dies vom Genre abhängig: Es gibt Geschichten und Genres, die ohne Charakterwandlung auskommen. In Action/Abenteuer/Thrillern braucht es selten ein unterbewusstes Motiv für die Taten des Helden, dieser handelt im Namen der Gerechtigkeit so wie James Bond. Beim Actionhelden ist die Welt aus den Fugen geraten und nur der Held kann sie retten. Solche Geschichten nennen wir „plot-driven“.

 

plot-driven vs. charakter-driven


Eine plot-driven Story definiert sich an dem äußeren Ziel, und die Motivation dahinter ist es, der Welt etwas zurückzugeben, was ihr fehlt oder genommen wurde: Frieden, Gerechtigkeit, Überleben ect. In rein charakter-driven Stories dagegen kämpft der Held darum, die Leere in sich selbst zu füllen: Liebe, Vertrauen, Hoffnung, Erwachsenwerden ect.
Plot und Charakter können nicht voneinander getrennt werden. Die Ereignisse in der Geschichte entstehen aus den Taten, Entscheidungen und Reaktionen der Hauptfigur. Die Hauptfigur wurde ausgesucht (oder erschaffen), weil sie auf bestimmte Ereignisse in einer bestimmten Art und Weise reagieren wird. Ändert man die Ereignisse, muss man die Figur ändern und umgekehrt.
Der größte Unterschied zwischen plot-driven und charakter-driven ist aber nicht das Genre, sondern die Frage, welche Kraft hinter den Ereignissen in den beiden großen Wendepunkten steht. In plot-driven Stories werden die Wendepunkte, vor allem im ersten Act (der Inciting Incident und der Break in Act II) von Kräften außerhalb der Kontrolle der Hauptfigur ausgelöst. Kriminelle begehen Straftaten, Diktatoren deklarieren Krieg, Monster greifen an, ein Komet rast auf die Erde zu ... In charakter-driven Stories werden die Ereignisse in den Wendepunkten des ersten Aktes durch den Protagonisten selber ausgelöst: Er verliebt sich, begeht eine Straftat, verrät seinen Auftraggeber, verlässt seine Frau, glaubt jemandes Lüge, sucht nach der Wahrheit ect. 
(Allerdings ist dies nicht immer ganz so klar definierbar, manchmal können Ereignisse miteinander gemixt werden. Eine Geschichte kann zu gleichen Teilen charakter+plot-driven sein, aber meistens neigt sich die Balance in eine Richtung.)
Letztendlich kommt es darauf an, was der Autor erzählen will: Verfasser von charakter-driven Stories wollen das innere Bedürfnis der Hauptfigur ausloten und die Figur auf die Probe stellen, um sie am Ende ihre Dämonen besiegen und zu einem besseren Selbst werden zu lassen (oder auch nicht). Und für diese Überwindung und Erfüllung ihrer Selbst lieben wir die Figuren. Wir lieben es, eine Figur zu sehen, die allen Widerständen zum Trotz nicht aufgibt, über sich hinauswächst und zu einem besseren, glücklicheren Menschen wird. Daher glauben wir, diese Figuren besser zu kennen, als unsere besten Freunde und schließen sie oft über Jahre in unsere Herzen. Auch oder gerade weil sie nicht perfekt sind, weil sie einen Fehler, einen Makel oder eine dunkle Seite haben. Die sympathischste Person kann dennoch illoyal sein, ein Lügner, Feigling, Egoist oder Schwächling sein. Wir verzeihen solche Makel, denn wir finden sie in uns selbst wieder. 

 

Die Hintergrundgeschichte


Wenn das wahre Gesicht einer Figur zum Vorschein kommt, braucht es eine Erklärung, warum diese Figur so geworden ist. Was hat sie zu einem Lügner gemacht, warum kann sie niemandem vertrauen? Der Autor sollte eine Hintergrundgeschichte entwerfen, die das dahinterliegende Ereignis erklärt, er sollte die Kränkung kennen, die das Verhalten der Figur beeinflusst. Hintergrundgeschichten interessieren uns, wir wollen wissen, wo jemand herkommt, was er bisher erlebt hat. Nicht umsonst ist das das Erste, was wir fragen, wenn wir jemanden kennenlernen: Wo bist du aufgewachsen/ zur Schule gegangen? Was machen deine Eltern beruflich? In welchen Ländern warst du schon? Die Vergangenheit definiert uns.
Manche Autoren schreiben richtige Biographien für ihre Hauptfigur, oder sie stellen ihrer Figur Fragen, wie in einem Interview. Das Interview hat den Vorteil, dass die Figur in ihren eigenen Worten Antworten muss, und so schon einmal ihre Sicht der Dinge und ihre sprachlichen Eigenarten zutage treten, sowie Dinge, die ihr vielleicht unangenehm sind. Daher ist es besser, eine Figurenbiographie nicht in der 3. Person zu verfassen, sondern lieber die Figur selbst zu Wort kommen zu lassen. So trainiert der Autor schon einmal die „Stimme“ der Figur, bekommt Einblick in ihre Gedanken.
Hintergrundgeschichten helfen uns zu verstehen, warum eine Figur so handelt, wie sie es tut. Oft reagiert jemand aus einem Trauma heraus, der frühe Tod der Eltern oder eines geliebten Menschen z.B. Aber dies sollte nicht übertrieben werden —Fingerspitzengefühl und psychologische Einsicht  sind gefragt. Oft dichten Autoren ihrer Hauptfigur eine Missbrauchsgeschichte in der Kindheit an, um sie zerbrochen und gequält darstellen zu können. Doch das ist zu einem so häufigen Klischee geworden, dass man es vermeiden sollte. Es braucht häufig gar nicht so traumatische Ereignisse: Wie im echten Leben werden wir durch viele kleine, scheinbar nebensächliche Kränkungen oder Niederlagen geprägt. Angst vor Nähe kann entstehen, wenn jemand sitzengelassen wurde, jemand wurde vielleicht zynisch, weil ihm häufig Ungerechtigkeiten widerfahren sind.
Viele Anfänger-Autoren begehen den Fehler, alles was sie in der Hintergrundgeschichte erfunden haben, auch dem Leser erzählen zu wollen, so dass sie diese Szenen durch Traumsequenzen, Flashbacks oder Monologe in die Handlung einschieben. Dabei ist es besser, nur anzudeuten, was in der Vergangenheit des Charakters geschehen sein mag. Die Hauptfigur charakterisiert sich durch ihre Taten. Es erzeugt Spannung, Ereignisse in der Vergangenheit nur anzudeuten. Je mehr Mysterium die Hintergrundgeschichte bleibt, umso neugieriger bleibt der Leser auf die Figur (das gilt ganz besonders für Seriencharaktere). Jedoch kann ein kleiner Einblick zur rechten Zeit am rechten Ort enorme Wirkung haben. Wenn die Hauptfigur große Entscheidungen treffen muss (vor allem am Break in Act I und Break inAct II), oder über seine Lage nachgrübelt (Debate, Dark night of the soul) kann ein guter Moment sein, etwas aus der Vergangenheit der Figur zu enthüllen.
Hintergrundgeschichten können übrigens verändert und angepasst werden, wenn während des Schreibens einem auffällt, dass etwas Bestimmtes fehlt. Man muss nicht chronologisch vorgehen, und das Leben der Hauptfigur seit seiner Geburt an aufschreiben. 

 

3-dimensionale Charaktere


Das ist es, was wir meinen, wenn wir von einem 3-dimensionalen Charakter sprechen:
-          Nach außen stellt die Figur eine Persönlichkeit dar, durch das was sie ist (Beruf, sozialer Status ect.) und wie sie sich gibt (Kleidung, Manierismen, Bildung). Dies ist die nach außen getragene Fassade, die einen erklärten Ziel folgt (WANT).
-         Darunter lauert das Unterbewusste Bedürfnis (NEED), das dem erklärten Ziel im Wege steht, und die Figur anders handeln lässt, als sie sollte.
-         Zu guter Letzt kommt die Wunde oder Makel dazu: Eine dunkle Seite oder schlechte Angewohnheit. Die Figur hat vielleicht gelernt, sich nur mit Gewalt durchzusetzen oder im Gegenteil, sich alles gefallen zu lassen.
Diese unterschiedlichen Dimensionen stehen im Kontrast zueinander, sie verhindern und bekämpfen sich und das macht den Charakter so faszinierend.



Darüber sprechen wir beim nächsten Mal: Motivation und das Problem mit passiven Protagonisten

Freitag, 31. August 2018

Charaktererstellung Teil I: Der Protagonist



 
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Ein sehr wichtiger Teil des Geschichten-Erzählens ist zweifelsohne die Erschaffung von unvergesslichen, lebendig wirkenden Figuren. Wie aber macht man das, wie erschafft man einen Charakter, den Leser ins Herz schließen und mit dem sie über hunderte von Seiten mitfiebern?

Teil 1: Protagonist 


Wir beginnen mit dem Protagonisten, natürlich, und gehen dann weiter über den Antagonisten, zu den Nebencharakteren und unterhalten uns über die Zusammenstellung des Figurenensembles. Denn alle Geschichten beginnen und enden mit einer Hauptfigur, die auf innere und äußere Zwänge reagiert. Die Hauptfigur ist die komplexeste Rolle in deiner Geschichte. Alle Nebenfiguren spiegeln eine Facette deiner Hauptfigur wider (vor allem der Antagonist, aber dazu später mehr).

Wie also erschafft man eine Hauptfigur?


Wo findet man Inspirationen für neue, originelle Charaktere? Manchen Autoren fällt als allererstes eine Figur ein, über die sie schreiben wollen. Sie haben ein Bild oder Gefühl für einen Charakter im Kopf, sehen ihn vielleicht sogar vor sich oder hören seine Stimme, und von dieser allerersten Inspiration aus kreieren sie die Handlung um diese Figur herum. J.K. Rowling soll während einer verspäteten Zugfahrt plötzlich einen Jungen im Zaubermantel vor sich gesehen haben, von dem sie nur eines wusste: Dass er auf dem Weg zu einer Zaubererschule war, und dass sein Name HARRY POTTER lautete.


Wir können mit Sicherheit sagen, dass es so ist: Manchmal marschieren Charaktere einfach in unser Leben und lassen uns nicht mehr los.
Charaktere können aber auch von echten, lebenden Menschen um uns herum inspiriert werden, die man beobachtet oder gut kennt, und die ein interessantes Leben führen oder ein außergewöhnlichen Beruf ausüben oder merkwürdige Ticks haben. Vielleicht schnappen wir an der Supermarktkasse einen Gesprächsfetzen auf oder du fragst dich, was der Mann mit dem Lederkoffer ganz allein im Zug nach Paris zu suchen hat. Vielleicht möchtest du aber auch einfach nur über einen Geheimagenten oder einen Zauberlehrling oder ein krebskranke Mutter schreiben. Deine Charakteridee deutet dabei schon das Genre und die möglichen Arten des Hauptkonfliktes an.
Anderen Autoren fällt als erste Inspiration aber eher Situationen, Probleme und Konflikte ein: Das, worum es in der Handlung gehen soll. Nun brauchen sie für diesen Konflikt die passende Hauptfigur. Und diese kann man sich „bauen“, indem man anfängt, Eckdaten für eine passende Figur aufzulisten (Alter, Beruf, Familienstand, Aussehen, Hobbies usw.) und diese im Laufe der Zeit immer mehr ausfüllt.
Es ist nicht nötig, so eine Liste im Vorneherein bis ins Detail auszufüllen. Solche Charakterbögen können aber nützlich sein, wenn man sie beim Schreiben weiter ausfüllt, um einen Überblick zu behalten, besonders bei Serien und Werken mit einem hohen Figurenpersonal. Ich würde dazu raten, sich eigene Charakterbögen anzulegen mit den Daten, die man braucht, und diese je nach Projekt anzupassen (Fantasy/ SciFi braucht andere Merkmale als Gegenwarts-Charaktere z.B.). 

Einen solchen Charakterbogen von SCRIPTDOKTOR findet ihr HIER zum kostenlosen DOWNLOAD.

Bei all den Details, die man sammelt, muss man aber im Auge behalten, dass die Figur zum Hauptkonflikt passen soll. Sprich ein Kriminalfall, der gelöst werden soll, braucht einen willigen Detektiv, eine Liebesgeschichte einen Junggesellen und die Zaubererschule einen Jungen mit wenig Erfahrung in der magischen Welt. Kleidung, Aussehen, Hobbies sind nur schmückendes Beiwerk, was viel wichtiger ist, ist die Motivation der Hauptfigur, am Plot teilzunehmen, mit anderen Worten das WANT & NEED.
Früher oder später muss man sich über die Innenwelt einer Figur Gedanken machen, ihre Ängste, Träume, Weltanschauungen und Psychologie. Wir haben uns ausgedacht, wer die Figur ist (z.B. ein Geheimagent), wie sie aussieht, wo sie lebt und wie ihr beruflicher Werdegang bisher war, aber all das ergibt nur ein Abziehbild, eine austauschbare Figur, eine Fassade.

Wer ist die Hauptfigur wirklich?


Jetzt ist es an der Zeit, die vielen Schichten der Persönlichkeit des Charakters auf den Grund zu gehen.
Menschen sind sehr komplexe Individuen, voller Widersprüche und unkontrollierbarer Emotionen. Niemand ist einfach nur gut oder böse, so wie niemand einfach nur faul oder fleißig ist, voller Mitgefühl oder grausam. Jeder von uns hat das breite Spektrum aller menschlichen Gefühle und Emotionen in sich und ist in der Lage, zu Höchstleistungen aufzusteigen wie auch zu unvorstellbar egoistischen und hinterhältigen Taten fähig zu sein. Und bei allem, was wir tun, sind wir auch noch in der Lage, die eigenen Taten und Gefühle zu hinterfragen und zu analysieren. Wir mögen das eine sagen, doch das andere denken. Das eine für richtig halten, doch das andere tun. Und das ist nur die bewusste Schicht, darunter lauert, wie Siegmund Freud postuliert hat, das Unterbewusste mit seinen Trieben, Instinkten und Reflexen. Wer kennt sich schon selbst so genau, geschweige denn seinen besten Freund oder Lebenspartner?
Und doch ist es das, was ein Autor tun muss: Seine Hauptfigur in- und auswendig kennen. Er kennt die tiefsten Ängste, die geheimsten Gedanken und verborgenen Sehnsüchte seiner Figur und weiß, wie sie in einer bestimmten Situation handeln wird.
(Manchmal jedoch überrascht die Figur sogar den Autor. Kreativität verläuft bei jedem anders, und manche wollen ihre Figuren beim Schreiben entdecken. Das ist in Ordnung! Es ist sehr bereichernd, wenn die eigenen Figuren auf einmal „zum Leben erwachen“ und Dinge tun und sagen, die der Autor nicht gewollt hat. Dann kann man nichts weiter tun, als die Finger auf der Tastatur lassen und mitschreiben, was die Stimme einem diktiert. In Wahrheit hat hier nur das Unterbewusstsein des Schriftstellers die Regie übernommen, und das ist gut so. Niemand ist kreativer, als das Unterbewusstsein, wie wir später noch sehen werden.)
Besonders in Romanen, die in der Ich-Perspektive geschrieben werden, kennt und erforscht der Autor seine Hauptfigur bis in die Tiefe. Denn was ist der Roman in der 1. Perspektive anderes als ein sehr langer Monolog des Protagonisten mit sich selbst/ mit dem Leser? Deshalb sind Ich-Erzähler häufig „Unreliable Narrators“. Sie lügen, verschweigen, beschönigen in ihrer Erzählung die Ereignisse, denn sie sehen alles durch ihre eigene Linse und schämen sich vielleicht für ihre Taten, sind unehrlich gegenüber sich selbst und kennen vielleicht sogar ihre eigene, wahre Motivation nicht. (Aber genau durch ihre Auslassungen und Beschönigungen verrät die Figur sich selbst, der Leser versteht im Subtext das wahre Gesicht der Figur.)
Beim Lesen einer Geschichte stellen die Leser sich häufig die Frage: „Wenn ich in derselben Situation wäre, was würde ich tun?“ Aus dieser Haltung beim Lesen heraus, empfinden sie Mitleid, Sympathie oder Antipathie einer Figur gegenüber.
Der Autor stellt sich beim Schreiben dieselbe Frage, nur dass er sich nicht fragt, was er selbst in dieser Situation tun würde (Autoren sind selten heldenhaft oder mutig wie ihre Figuren), sondern wie diese spezifische Figur reagieren wird und soll. Einerseits soll die Figur auf eine bestimmte Art und Weise reagieren und damit die Handlung vorantreiben (Der Privatdetektiv soll den Fall annehmen), andererseits muss die Figur eine innere Motivation haben, dieses handlungstechnisch Wichtige auch zu tun. Das WANT und NEED der Figur muss zu der Handlung passen.
Am Anfang der Handlung hat die Hauptfigur bereits eine Vorstellung davon, wie sie ihr Leben führen möchte, sie hat Träume und Ideale und versucht, diese zu erreichen. Doch dann stellt ein Ereignis das bisherige Leben auf den Kopf und ihre Lebensweise in Frage: Der Catalyst oder Inciting Incident.


Im Folgenden beeinflussen die Entscheidungen und Taten der Hauptfigur die Handlung. Das ist es, was sie zur Hauptfigur macht: Sie reagiert nicht nur auf die Ereignisse, sie beeinflusst diese (passive Figuren vs. aktive Figuren).
Das Ziel/ die Motivation (Want) der Hauptfigur bestimmt, welche Entscheidungen sie trifft und wie sie handelt. Keine Szene, kein Dialog, kann geschrieben werden, ohne dass der Autor weiß, was die Hauptfigur will, denn dieses beeinflusst, wie sie reagieren wird. Ohne Ziel hat die Figur keine Motivation, etwas zu unternehmen.
Zwar wird das individuelle Ziel einer einzelnen Szene variieren, aber dieses sind nur Teilerfolge oder Rückschläge auf dem Weg zu einem großen, endgültigen Ziel.

Was ist das Ziel der Hauptfigur? Das WANT


Diese Frage ist oft gar nicht so leicht zu beantworten. Meist fällt dem Autor zunächst eine ganze Liste an Zielen für seine Hauptfigur ein: Sie möchte Frieden, ihre wahre Liebe finden, Erfolg im Beruf, Selbstfindung und kreative Erfüllung, ein schönes Haus, Gesundheit und Kinder …
Eine solche Liste hilft dem Autor nicht weiter, denn all diese Ziele sind nicht mit dem Hauptkonflikt verbunden. Genau wie im richtigen Leben saugt eine Vielzahl an Zielen die Energie aus einem Menschen und sorgt dafür, dass er am Ende gar nichts erreicht. Eine gut geschriebene Geschichte fokussiert sich auf ein einziges zentrales Ziel, für das die Hauptfigur all ihre Energie aufwendet. Bis man nicht ein klares Ziel für die Hauptfigur formuliert hat, das mit dem Hauptkonflikt verbunden ist und entweder dasselbe oder das Gegenteil dessen bedeutet, was der Antagonist will, kann man keine Szenen schreiben, die die Handlung vorantreiben.
Das Ziel muss in manchen Fällen bereits vor dem Inciting Incident existiert haben, aber meistens beginnt es dort. Etwas passiert, dass das bisherige Leben der Hauptfigur auf den Kopf stellt; die Hauptfigur muss die Initiative ergreifen, um ihr Leben wieder in Balance zu bringen. (Möglicherweise weiß die Hauptfigur nicht sofort, was ihr Ziel ist, sondern braucht noch bis zum Break in Act II, um es herauszufinden.)
Je nach Genre ist dieses Ziel sehr unterschiedlich, es kann ein physisches Objekt sein, wie Geld, oder ein Artefakt oder ein Computercode, manchmal ist es eine Person — eine Geliebte, ein Feind, ein Täter — oft aber etwas Metaphysisches, wie Rache, Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit.
Der Leser spürt, welches Ziel die Hauptfigur verfolgt, selbst wenn es nicht explizit ausgesprochen wird. Dennoch ist es wichtig, dass keine Unklarheit über das Ziel des Protagonisten nach dem Break in Act II besteht.
(Das zentrale Ziel kann sich im Laufe der Handlung ändern, wenn neue Informationen oder Ereignisse das ursprüngliche Ziel unmöglich machen, jedoch dienen diese noch immer demselben Zweck.)
Wenn du Probleme hast, das Ziel des Protagonisten zu benennen, oder es während des Schreibprozesses aus den Augen verlierst, dann liegt es daran, dass du zu viele Ziele hast. Ist es Liebe oder Rache? Frage dich: Mit der Erfüllung welchen Ziels würde die Geschichte enden? Wenn sie ihre wahre Liebe gefunden hat, oder erst wenn Rache geübt wurde? Kann eines von beiden Zielen unerfüllt bleiben und deine Geschichte sich dennoch beendet anfühlen? Sollte sie beide Ziele erfüllt haben und die Geschichte fühlt sich immer noch nicht zu Ende an, dann hast du das wahre Ziel der Figur noch nicht gefunden — In Wahrheit basiert ein äußeres Ziel nämlich immer auf einem unterbewussten Bedürfnis (NEED).


Was braucht die Hauptfigur? Das NEED


 Bei komplexen Charakteren löst der Inciting Incident zwei Ziele aus: Das WANT und  das NEED (das äußere + innere Ziel/ Bedürfnis).
Ein unterbewusstes Bedürfnis steht oft im Gegensatz zu einem bewusst verfolgten Ziel. (Darum sind wir Menschen ja so komplizierte Charaktere, die selten sagen, was sie meinen.) Oft glauben wir, etwas aus einem bestimmten Grund heraus haben zu wollen, aber in Wahrheit entspringt dieser Wunsch einem tiefen, unerfüllten Bedürfnis, einer Angst oder einem inneren Mangel. Wir wollen Geld, aber sehnen uns nach Liebe. Wir wollen Erfolg, aber es mangelt uns an Selbstbewusstsein. Damit der Leser dieses unterbewusste Bedürfnis spürt, sollten das äußere und innere Ziel in krassem Gegensatz zueinander stehen. Je tiefer die Wunde, je widersprüchlicher der Kontrast, desto interessanter die Figur und desto mehr wird die Handlung eigentlich von diesem starken inneren Bedürfnis der Hauptfigur angetrieben. Das Unterbewusstsein hat mehr Macht über unsere täglichen Handlungen als wir glauben.
Und dieses innere Bedürfnis, das oft einem Trauma, einer schlechten Erfahrung oder einer inneren Wunde entspringt, muss im Showdown von der Hauptfigur überwunden werden, wenn sie dem Antagonisten gegenübersteht.
Der Kampf um das Bewusstwerden und Überwinden dieses Makels, des inneren Bedürfnisses, ist die notwendige Wandlung der Hauptfigur.
Im wahren Leben ändern wir Menschen uns selten — oder plötzlich und scheinbar ohne erkennbaren Grund oder Warnung. Die Figuren in einem Roman sind aber keine Menschen: Sie sind Kunstwerke, Metaphern für das, was den Menschen ausmacht. Schriftsteller erschaffen Figuren, damit der Leser einen Einblick und ein tieferes Verständnis in die Menschlichkeit bekommt, und die Figuren wandeln sich am Ende, um eine Geschichte über das Überwinden unserer schlimmsten Fehler und Ängste zu erzählen. Deswegen lieben wir Geschichten.

Deshalb spiegelt der Antagonist immer die Gegenseite des Protagonisten wider.

Mehr über das Need der Hauptfigur beim nächsten Mal.