Donnerstag, 1. Dezember 2016

Der Cliffhanger als wichtiges Spannungselement





Das Gesetz der Serie Teil 6: Cliffhanger

Ein großartiges Stilmittel, um Spannung zu erzeugen, ist der sog. Cliffhanger.

Der Begriff wurde in amerikanischen Filmen geprägt und meint wortwörtlich, einen Protagonisten, der von einer Klippe hängt und sich nur noch mit letzter Mühe festhalten kann und droht, in der nächsten Sekunde abzustürzen. In dieser (scheinbar) ausweglosen Lage wird der Zuschauer hängen gelassen, denn die Handlung schneidet zu einer anderen Figur über, so dass man zunächst im Unklaren gelassen wird, ob und wie die Hauptfigur diese lebensbedrohliche Lage überlebt.

Der allererste Cliffhanger der Geschichte war aber kein Filmheld, sondern die Romanfigur Henry Knight aus Thomas Hardys „Blaue Augen“: Über weite Teile des Buches lässt Hardy seinen Helden in Lebensgefahr über dem Abgrund schweben und die Leser mit Spannung verfolgen, wie seine Retter auf dem Weg zu ihm sind, ohne zu wissen, ob diese es rechtzeitig schaffen oder nicht.

Diese Art von Cliffhanger wurde wieder und wieder kopiert und funktioniert nicht nur mit Abstürzen über meterhohen Klippen, sondern mit jeder Art von Lebensgefahr: Auf den Protagonisten gerichtete Schusswaffen, sich nahende Züge, abstürzende Flugzeuge, zu entschärfende Bomben, sich herabsenkende Fallbeile … der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, wie man seinen Protagonisten in eine lebensbedrohliche Lage versetzen kann. Auf dem Höhepunkt einer Szene mitten in der größten Gefahr lässt man den Leser im Unklaren über den Ausgang und widmet sich - oft über mehrere Kapitel - einem anderen Handlungsstrang oder einer anderen Figur. Dies hat den nervenaufreibenden Effekt, dass der Leser vor Spannung auf seiner Sesselkante hibbelt und auch während der neue Handlungsstrang einem eigenen Höhepunkt zustrebt und eventuell auch diese Figur in eine lebensbedrohliche Lage führt, wird der Leser immer im Hinterkopf das Schicksal der Hauptfigur behalten, und ungeduldig darauf warten, dass der Haupthandlungsstrang weiterläuft und man ihn von der Ungewissheit um das Leben des Helden erlöst.

Auf diese Art und Weise kreiert man das, was als Pageturner bezeichnet wird: Eine Handlung, die vor Spannung den Leser in Atem hält.

Cliffhanger am Ende - Spannung garantiert

Cliffhanger können auch am Ende eines Romans oder Films gesetzt werden, um sicherzustellen, dass die Leser/Zuschauer wiederkommen. Dies ist ein häufiges Stilmittel von Serien. Unzählige US-amerikanische Kinoserien (Serials) der 1930er Jahre (z.B. Flash Gordon, Buck Rogers) setzten diese Form plakativer Zuspitzung ein. Diese Filme waren üblicherweise etwa 30 Minuten lang und wurden wöchentlich wechselnd vor dem eigentlichen Hauptfilm gezeigt. Wollte der Zuschauer die Handlung der Serie mitbekommen, musste er jede Woche ins Kino gehen, egal welcher Hauptfilm folgte.

Es gab sogar eine ganze Serie, die nur auf diesem Prinzip basierte: In „The Perils of Pauline“ geriet die Heldin Pauline jedesmal in eine lebensbedrohliche Lage, z.B. lag sie gefesselt auf den Schienen und ein Zug kam. Die Endcredits liefen vor der Auflösung, und man musste nächste Woche wiederkommen, um Pauline gerettet zu sehen.

Pearl White als Pauline in "The Perils of Pauline"



Nicht umsonst nahm der Cliffhanger seinen Anfang bei Thomas Hardy, einem Autor von Fortsetzungsromanen (Serials), die in Magazinen oder Zeitschriften erschienen, vor allem im Bereich der Trivialliteratur wie z.B. bei Charles Dickens, Sir Arthur Conan Doyle und Mark Twain. Die Cliffhanger-Szene am Ende einer Folge garantierte, dass die Leser die Fortsetzung in der nächsten Ausgabe von "Tinsels Magazine" kauften, und übernächsten und über-übernächsten ...

Noch heute ist dies ein beliebter Trick, um Zuschauer und Leser bei der Stange zu halten. 

Aber Vorsicht: Schon so manche Serie wurden abgesetzt, bevor es zur Auflösung des Cliffhangers kam, so dass Fans nie erfahren haben, was aus ihrem Held geworden ist, wie z.B. bei dem Film Charlie staubt Millionen ab (The Italian Job, 1969), weil sein Ende ein „Cliffhanger“ im wörtlichen Sinne ist, eine zunächst geplante Fortsetzung aber nie gedreht wurde.
Oft arbeiten die Autoren mit extremen Überraschungen in der Handlung und mit brenzligen Situationen, in denen das Leben eines oder mehrerer der Hauptcharaktere in Gefahr ist. (So ist es für die Produzenten auch möglich, Darsteller wegen überhöhter Honorarforderungen in der Staffelpause ausscheiden zu lassen.)
Auch moderne Fernsehserien wie „Walking Dead“, „Breaking Bad“ oder „Lost“ arbeiten sehr viel mit Cliffhangern.

Natürlich weiß man, dass die Hauptfigur (höchstwahrscheinlich) überleben wird. Was wäre die Serie ohne ihren Hauptdarsteller? Pauline in The Perils of Pauline wird in jedem Fall überleben, ist doch klar. Die Spannung kann aber auch daraus generiert werden, dass man wissen will, wie sich der Held dieses Mal wieder rettet.

Cliffhanger von Kapitel zu Kapitel und von Szene zu Szene

Es muss aber nicht immer gleich das Leben auf dem Spiel stehen.
Cliffhanger funktionieren nicht nur als ganz großes Spannungselement am Ende eines Romans/ einer Folge, sondern auch am Ende eines Kapitels oder einer Szene. Der Held muss nicht jedes Mal in Lebensgefahr schweben, um einen Cliffhanger-Moment zu erschaffen, es reicht eine Verzögerung, die den Leser im Unklaren lässt. So kann eine Szene oder ein Kapitel mit einer unbeantworteten Frage enden oder mit einer mysteriösen Dialogzeile, die im Raum stehen gelassen wird. Man lässt einfach eine Handlung unbeantwortet, indem man die Reaktion der Hauptfigur dem Leser vorenthält. Wie wird er darauf antworten? Was wird er tun? Die Reaktion darauf kann in der nächsten Zeile/ im nächsten Kapitel erfolgen (sie kann  aber auch ganz weggelassen werden und erst viele Kapitel später dem Leser enthüllt werden, während man sich bis dahin einem anderen Handlungsstrang widmet).


Kapitel 1


(…)Wie betäubt sank er in einen Sessel, wo er für ein paar Augenblicke in völliger Bestürzung verharrte. Nach und nach wurde sein Blick vom blinkenden roten Licht des Faxgeräts angezogen. Wer auch immer dieses Fax geschickt hatte, er war noch in der Leitung … wartete darauf, mit ihm zu sprechen. Lange Zeit starrte Langdon reglos auf das blinkende Licht. Dann, mit zitternden Fingern, nahm er den Hörer ab.


Kapitel 2

„Schenken Sie mir jetzt Ihre Aufmerksamkeit?“, fragte die Stimme des Anrufers.(..)


Eine Szene wird normalerweise anhand der Einheit von Figur, Zeit und Ort definiert. Hier wurde aber innerhalb einer Szene einfach ein Kapitelumbruch gesetzt. Der Leser will unbedingt wissen, wer der Anrufer am anderen Ende der Leitung ist, also liest er weiter.

Billiger Trick?

Kann sein, aber einer der funktioniert. Nicht umsonst fanden Millionen von Lesern, dass sie dieses Buch nicht aus der Hand legen konnten, obwohl sie vielleicht nicht genau sagen konnten warum. (Weil sie keinen Kapitelabschluss fanden, der ihnen Ruhe lies, jedes Kapitel, jede Szene, endet mit einer offen gebliebenen Handlung oder Frage; und sei es nur die Frage: Wer ist hinter der Tür oder Wer ist am Telefon?). Auf diese Weise erschafft man einen Pageturner.

Anstatt mit einer offenen Frage kann ein Kapitel/ eine Szene aber auch einen Cliffhanger schaffen, der mit der Lüftung eines Geheimnisses oder mit der Verkündung einer großen Entscheidung des Protagonisten/ mit einem Schwur oder einer überraschenden Wende der Ereignisse endet. Bei dieser Art des Cliffhangers wird die Spannung dadurch erzeugt, dass der Leser wissen will, wie die Reaktion des Helden auf diese neue Wendung ausfällt.


Kapitel 1
(…) Die Zeit der Ziehung ist gekommen. Effie Trinket sagt, was sie immer sagt: “Ladies first!“, und geht hinüber zu der Glaskugel mit den Mädchennamen. Sie greift hinein, taucht ihre Hand tief in die Kugel und zieht einen Zettel heraus. Die Menge hält den Atem an, man könnte eine Stecknadel fallen hören, und ich fühle mich elend und hoffe inbrünstig, dass es nicht mein Name ist, nicht mein Name, nicht mein Name.
Effie Trinket geht zurück zum Podest, streicht den Zettel glatt und verliest mit klarer Stimme den Namen. Es ist nicht mein Name.
Es ist Primose Everdeen.

Kapitel 2

Einmal, als ich reglos in einem Baumversteck darauf wartete, dass das Wild vorbeikam, bin ich eingenickt. Ich fiel drei Meter tief und landete auf dem Rücken. Es war, als hätte der Aufprall das letzte bisschen Luft aus meiner Lunge gepresst, und ich lag dort und kämpfte verzweifelt darum, einzuatmen, auszuatmen, irgendwas zu tun.
Genauso ergeht es mir jetzt. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie man atmet, bin unfähig zu sprechen, vollkommen fassungslos, während der Name in meinem Schädel herumspringt. 


Hier endet Kapitel 1 mit der Verkündung des Namens derjenigen, die an den gefährlichen Hungerspielen teilnehmen muss - und es ist nicht der Name der Hauptfigur, der gezogen wird, sondern der ihrer Schwester. Das kommt einem Todesurteil gleich. Der Leser brennt darauf, zu erfahren, wie die Hauptfigur (emotional) auf diese Verkündung reagiert. Doch die Reaktion wird dem Leser vorenthalten, zunächst einmal mit einem Kapitelumbruch und dann mit einer Mini-Rückblende. Erst dann erleben wir, wie die Hauptfigur sich fühlt. Diese Szene ist deshalb ein Cliffhanger, weil hier zwar nicht die Hauptfigur über dem Abgrund schwebt, aber dafür eine ihr nahestehende Figur und weil es die Hauptfigur zum Handeln zwingt (sie wird sich selbst freiwillig zu der Teilnahme an den Hungerspielen melden, anstelle ihrer Schwester.)

Solche Mini-Clifhanger können, wenn sie geschickt eingesetzt werden, enorme Spannung erzeugen und garantieren den Leser bei der Stange zu halten, während er emotional von einer Szene in die nächste rutscht.

Ein Trick aus der Spannungsliteratur - der funktioniert.

Möglichkeiten für einen Cliffhanger:

Bedrohung/Lebensgefahr
Drohende Katastrophe
Gefährliche Emotionen/ Gefühlsausbruch
Omen/Vorzeichen
Mysteriöse Dialogzeile
Geheimnis enthüllt
Große Entscheidung / Gelübde
Ankündigung eines erschütternden Ereignisses
Wendung/ Überraschung
Offene Frage/ ungelöstes Rätsel

Vielleicht willst Du in einer Deiner nächsten Geschichten einmal etwas davon ausprobieren?