Donnerstag, 26. März 2020

Charakterisierung durchs Setting




Quelle: Pexels
Eine Figur charakterisiert man am besten über das Setting.
Geschichten bestehen ja bekanntlich aus 3 Bausteinen: Plot, Charaktere und Setting. Alle drei sind miteinander verbunden und bedingen einander. Und deshalb kann man eine Figur nicht nur über den Plot (wie reagiert sie auf Eriegnisse?), sondern auch über das Setting charakterisieren.





Das klingt vielleicht erstmal counter-intuitiv, dass man Charaktere durchs Setting lebendig werden lässt, aber wenn man genauer drüber nachdenkt, ist es doch so, dass wir alle von unser Umgebung beeinflusst werden. Die Stadt, in der wir aufwachsen, die Kultur, das Land, die Leute: Alles prägt uns. Charaktere existieren nicht in einem Vakuum, und das Setting ist all das, was die Figur umgibt und sie prägt. So kann man Charaktere über ein außergewöhnliches Setting entwerfen, z.B. auf einem Raumschiff oder in einem Fantasy-Land, als Bewohner einer exotischen Insel oder Mitarbeiter einer großen Anwaltskanzlei. Außergewöhnliche Settings bringen außergewöhnliche Charaktere hervor: Wir blicken als Leser gerne hinter die Kulissen einer Theaterproduktion oder eines geschlossenen Flughafens, wir schauen gerne einem Anwalt für Menschenrechte über die Schulter oder einem Jedi-Ritter. Das Setting hat großen Einfluss auf unsere Figuren.
Und die Figur wiederum reagiert auf das Setting. Der Tsunami, der im Inciting Incident auf die Stadt zurollt, ist genauso Setting, wie der Börsencrash, der dafür sorgt, dass der Top-Börsen-Makler seinen Job verliert und auf der Straße landet. Dass Romeo & Julia sich auf der Party im Hause Capulet begegnen, ist eine Frage des Settings, denn auch, dass die Liebenden aus zwei verfeindeten Häusern stammen, ist Setting. Hier bildet das Setting sogar den Hauptkonflikt: Er ist ein Montague, sie eine Capulet.

Charaktere werden nicht auf Seite 1 geboren, sie kommen mit einer Meinung und Erfahrungen über das Setting in die Geschichte, sie kennen die Straßen der Stadt oder hassen ihre Bewohner, sie haben Freunde und Feinde und noch Schulden beim Barkeeper.
Deshalb charakterisiert man Figuren am besten über das Setting:
Man beschreibt man alles was sie sehen und alles was geschieht, durch die Augen der Hauptfigur. Und dabei benutzt man am besten alle 5 Sinne (Hören, Riechen, Sehen, Tasten, Schmecken), gefärbt durch die persönliche Meinung der Hauptfigur.
(Das gilt natürlich ganz besonders für Ich-Erzähler, aber auch für den personalen. Sogar der auktoriale Erzähler sollte eine Meinung haben —eben die des Erzählers.)
Nicht der Autor ist es, der uns beschreibt, wie etwas aussieht, sondern die Hauptfigur als Perspektivträger.

Mag die Hauptfigur den Geruch seines Arbeitsplatzes, ist es ihm vertraut oder abstoßend? Erinnert ihn der Anblick der aufgehenden Sonne an eine verflossene Liebe, oder hasst er den Nieselregen seiner Heimat, sehnt sich nach einer wärmeren Jacke und seiner verstorbenen Mutter?
Alles, was die Figur denkt, riecht und fühlt charakterisiert sie.
Anfänger-Autoren denken oft, sie müssten dem Leser beschreiben, wer die Hauptfigur ist. Aber das ist gar nicht nötig. Die Hauptfigur (bzw. der jeweilige Perspektivträger) charakterisiert sich selbst, mit allem, was er sieht und wie er reagiert.

Es ist doch so, dass jeder anders auf ein Ereignis reagiert und dass jeder etwas anderes wahrnimmt.
Beispiel: Wenn der Privatdetektiv das erste Mal einen Tatort betritt, wird er anders reagieren, wenn er ein Amateur ist oder ein Profi. Was sieht er, was fällt ihm auf? Ist es Routine für ihn, Blutflecken auf dem Boden zusehen, oder dreht ihm der Geruch den Magen um? Interessiert er sich nur für die Wunden an der Leiche oder deduziert er anhand von dessen Kleidungstil und den Regenspritzern an den Absätzen, dass das Opfer den Frühzug aus Paddington genommen hat?
 Wir alle leben in unser eigenen Filterblase, wir nehmen andere Dinge war, als die Menschen unter uns. Ein Musiker hört die Melodie im Spiel des Windes, ein Geheimagent achtet auf das nervöse Zucken am Auge seines Gegenübers und eine alleinerziehende Mutter sieht die schmutzigen Fußabdrücke auf den Fliesen, die der Junggeselle ignoriert. Durch die Auswahl der Details, die eine Figur wahrnimmt, beschreiben wir nicht nur die Umgebung, und lassen lebendige Bilder im Auge des Lesers entstehen, sondern sagen auch etwas über die Figur aus, die sie bemerkt.
Wir erfahren die Welt durch die Augen des Betrachters, also unser Hauptfigur.

Gehen 3 Leute aus einem Treffen in einem Café miteinander heraus, so wird jeder verschiedenes in Erinnerung behalten: Der eine hatte nur Augen für die Kuchenauslage, der andere war beleidigt, dass er nicht als erstes begrüßt wurde, der dritte rollte innerlich mit den Augen, weil ihm das Geplapper der beiden anderen auf die Nerven ging.
Jede Figur kommt mit einem Paket an eigenen Meinungen, Wünschen, Vorurteilen und Unsicherheiten in eine Szene. Man kann dieselbe Szene aus der Sicht von drei verschiedenen Figuren schreiben und bekommt drei verschiedene Szenen heraus. Genau das würde ich vorschlagen, macht das mal, schreibt eine Szene, in der zunächst Judy, dann Jack, dann Jill sich in einem Café treffen.

Schreibaufgabe:

Wie denkt ihr jetzt, ich weiß doch gar nichts über Judy, Jack und Jill.
Genau darum geht es ja. Damit eine spannende, dynamische Szene entsteht, müsst ihr euch was über die Figuren ausdenken. Sie müssen eine Beziehung zueinander haben — gut oder schlecht — müssen einen Grund haben, sich zu treffen — oder sich zufällig zu begegnen — und müssen aufeinander reagieren. Vergesst auch das Setting nicht, was ist das für ein Café, in dem sie sich treffen, ist es Tag oder spät am Abend, regnet es, in welcher Stadt befinden sie sich (oder in welchem Jahrhundert). Und was denken die Figuren über diese Stadt und dieses Café, ist es ihnen vertraut oder sind sie fremd hier, fühlen sie sich wohl oder lehnen sie die Inneneinrichtung ab? 
Alles hat Einfluss auf die Figur und das, was die Figur über ihre Umgebung und andere Menschen denkt, charakterisiert sie.
Jetzt versucht in dieser kurzen Szene (ca. 1-2 Seiten) so viel wie möglich über den Hintergrund der Figur einzubringen (wer sind sie, was arbeiten sie, wie sehen sie aus, welche Lebensereignisse haben sie schon durchgemacht). Vergesst nicht, jedesmal durch die Augen des Perspektivträgers zu schreiben und alles durch seine persönliche Stimme zu färben.

Charakter Voice

 

Hier kommen wir zum letzten Werkzeug, mit dem man eine Figur lebendig werden lässt: Durch Charakter Voice.
Charakter Voice ist natürlich, wie eine Figur spricht, ihre Syntax und sprachlichen Eigenarten. Nicht nur Dialoge sollten von der ganz persönlichen Art des Figur eingefärbt sein, sondern auch alle Beschreibungen der Umgebung, denn wir beschreiben immer alles durch die Augen der Hauptfigur bzw. des jeweiligen Perspektivträgers bei Geschichten mit multiplen Perspektiven.). Wir haben ja schon gelernt, dass man alles durch die Augen der Perspektiv-Figur beschreiben sollte, also mit ihren Meinung, Vorurteile, Abneigungen und Vorlieben. Es gibt Bonus-Punkte, wenn man auch alles andere mit der ganz persönlichen Stimmlage und Wortwahl des Hauptcharakters beschreibt. Ganz besonders der Ich-Erzähler lebt nun einmal davon, dass eine Figur uns ihre eigene Sicht der Dinge mit eigenen Worten erzählt. Häufig ist es genau diese Stimme, die es ausmacht, dass uns ein Buch so gut gefällt.
(Der Autor kann auch selber eine ganz persönliche Stimme haben, in der Auktorialen Erzählform darf er mit seinen eigenen Ansichten und Meinungen glänzen.)
Viele Leser sind von der Erzählstimme eines Buches angezogen, selbst wenn der eigentliche Inhalt ihnen vielleicht gar nicht gefällt. Figuren können also auch auf ganz andere Art glänzen.

Hier ein Beispiel: Mickey Spillane „Regen in der Nacht“

*Klicken um zu Vergrößern *
Ich habe dieses Beispiel ausgewählt, weil es ein sehr gute Beispiel dafür ist, dass alles durch die Augen der Hauptfigur erzählt werden sollte. Alles in diesem Absatz ist von der Wahrnehmung und der persönlichen Meinung der Figur geprägt. Bis hin zur einzelnen Wortwahl.
Zunächst einmal fällt auf, dass die Figur, die da einsam durch die Nacht wandert, den Regen und die Kälte liebt. Das ist natürlich eine Charakterisierung. Was sagt es über eine Figur aus, wenn sie nachts einsam und allein im Regen durch die Stadt wandert? Sehr viel!

Schaut mal, wie oft der Regen und die Kälte erwähnt werden. Was schließen wir daraus?

-              Die Figur liebt Regen
-              die Figur bemitleidet sich selbst

Was noch?

-              Die Figur wird uns kaum äußerlich beschrieben.
-              einfaches Detail (hochgeschlagener Mantelkragen) reicht aus, um ein Bild im Kopf des Lesers entstehen zu lassen
-              Der Mann ist ein Privatdetektiv. Wie kommen wir darauf? Das wird nirgendwo explizit gesagt, und doch wissen wir es anhand seines Verhaltens. Er ist entweder ein Schnüffler oder ein Krimineller.
-              Das Wort „Fluppe“ wird oft wiederholt. Es ist ein charakterisierendes Detail,  wenn eine Figur Umgangssprache benutzt (und deutet auf ihren sozialen und kulturellen Hintergrund hin).
-              Wortwahl wie „Asphaltpfade“ / „Häuserschluchten“: Die Figur sieht die Stadt als Wildnis
-              Der Privatdetektiv sieht in der Stadt „Ein Dschungel aus Verbrechen und Gewalt“
-              Diese Figur fühlt sich von den anderen Menschen isoliert — beachtet das Wort „eingesperrt“: Er beneidet die Autofahrer nicht über ihren trockenen, beheizten Innenraum, er findet sie eingesperrt. Ist dies ein Hinweis darauf, dass die Figur ein Problem mit geschlossenen Räumen hat? Warum? Hat die Figur früher vielleicht schon einmal im Knast gesessen?

Solche kleinen Beschreibungen sind nicht willkürlich, die Worte sind wohlgewählt und präzise auf ihre Wirkung ausgesucht.
Der Leser denkt nicht bewusst darüber nach, warum der Autor ein bestimmtes Wort ausgewählt hat, oder warum die Autofahrer als eingesperrt beschrieben werden, er nimmt es als atmosphärische Beschreibung hin. Und das ist gut so. Wir als Autoren aber haben die Möglichkeit, dem Leser ins Unterbewusstsein zu telegraphieren, was wir meinen, ohne es direkt sagen zu müssen.

Es gibt eine Andeutung des (inneren) Konflikts (Dem Bedürfnis).

-              Ahnung, dass etwas nicht stimmt
-              Vielleicht ist jemand gestorben, Hinweise auf den Tod
-              ist die Figur suizifgefährdet und geht deswegen auf die Brücke?

Ihr findet bestimmt noch mehr.

Aber nicht der Autor ist es, der dem Leser den Tod als Motiv andeutet; die Figur ist es, die an den Tod denkt und daher ihre Umgebung mit Worten wie „gottverlassen“ beschreibt.
Wir erfahren in dem kurzen Absatz hier also schon viel über die Figur, wir kriegen ein ziemlich klares Bild von ihr, und doch wurde eigentlich nur das Setting beschrieben: Eine Straße bei Nacht in Manhattan im Regen. Ohne Infodump, ohne dem Leser direkt zu erklären, wer die Figur ist, wo sie herkommt, welchen Beruf sie ausübt und was ihre Vergangenheit ist.
Das ist Charakterisierung durch Setting.
Der Leser will die Figur Mike Hammer näher kennenlernen.
Mike Hammer beschreibt Manhattan und durch die Details, die er benutzt, kapieren wir, dass Hammer die Stadt und ihre Bewohner gut kennt, dass er Straßenwissen hat und dass man ihn kennt. Es ist keine sichere Gegend, Gestalten lauern in den Hauseingängen, und doch lässt man Mike Hammer in Ruhe.
Was will er nachts auf der Brücke nach Manhattan? Will er sich selbst gar das Leben nehmen? Wir wissen es nicht, aber wir bekommen in diesem kurzen Absatz ein Gespür für sein Innenleben und das alles durch Beschreibungen des Settings durch die Augen der Figur! Achtet mal darauf, wenn ihr das nächste Mal ein Buch liest, wie das Setting beschrieben wird und gleichzeitig durch die Wahl der Worte die Hauptfigur beschrieben wird.
Das ist ein kleiner Trick, den ich euch heute beibringen wollte. Das ist nichts, was man in einer halben Stunde lernt, dafür braucht es viel Übung. Aber wenn man das kann, wenn man es schafft, seine Beschreibungen so zu verfassen, dass sie durch die Augen, Gedanken und Gefühle der Hauptfigur gefiltert werden, dann schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Man lässt die Szene für den Leser bildhaft entstehen und zusätzlich die Figuren lebendig werden.

Und das ist ein Trick, wie man Figuren voneinander unterscheidbar macht: 
Wenn ihr mehrere Perspektivträger habt, dann sind es ihre Meinungen und ihre Sicht auf die Dinge, die Details, die sie im Setting hervorhebt und wie sie die Umgebung sieht, was diese Figur unterscheidbar macht von allen anderen Figuren.