Samstag, 27. Oktober 2018

Charaktererstellung Teil II: Das Bedürfnis (NEED) der Hauptfigur


Quelle: Pexels


Der Inciting Incident (auch Catalyst genannt) ist ein Ereignis, der das Leben des Protagonisten auf den Kopf, ihn vor eine Herausforderung oder Bedrohung stellt, oder der ihm eine Chance bietet. Von da an verfolgt der Protagonist ein Ziel (das WANT), und um es zu erreichen, muss er alle Hürden überwinden und sich dem Antagonist (oder der antagonistischen Kraft, wie z.B. einer Naturkatastrophe) entgegenstellen, bis zum Ende der Geschichte, wo im Showdown die Hauptfigur ihr Ziel entweder erreicht, aufgibt oder verliert. Dies ist die äußere Handlung der Geschichte, der Plot.


Was ist Plot und wie plottet man einen Roman?

Im Inneren führt die Hauptfigur aber noch einen anderen Kampf: Die Hauptfigur trägt einen Makel oder ein Bedürfnis, eine Wunde oder ein Trauma in sich; etwas fehlt ihr, ein kritischer oder essentieller Teil, um sie selbst sein zu können. Die Handlung der Geschichte, der Weg, den die Figur einschlagen muss, gibt dem Protagonisten eine Chance, diese Lücke in ihrer Persönlichkeit zu füllen und zu ihrem wahren Selbst zu werden (NEED).

 

Was ist das NEED der Hauptfigur?


Die meisten Autoren starten mit einer ziemlich genauen Vorstellung, wer ihre Hauptfigur ist, wie sie denkt und fühlt, und wie sie in verschiedenen Situationen reagieren wird. Der Fehler, den Anfänger-Autoren häufig machen, ist aber, dass sie es versäumen, ihre Figuren mit Situationen zu konfrontieren, die diese zwingen schwere Entscheidungen zu treffen. Die Taten der Figur machen diese für den Leser lebendig und definieren, wer er ist. „Sympathische“ Figuren, in die der Leser sich hineinversetzen kann, tragen die Handlung nur, wenn sie den Hauptkonflikt verkörpern.
Zum Beispiel leidet Rocky im gleichnamigen Film an einem mangelnden Selbstwertgefühl. Er verachtet das Leben, das er führt, und hasst sich selbst. Als er die Chance bekommt, gegen den Box-Champion Apollo Creed anzutreten, trainiert er hart und kämpft einen verbissenen Kampf. Aber er verliert dennoch nach Punkten. Zwar wird Rocky nicht Champion — aber die Zuschauer feiern ihn wie einen Helden, weil er der Erste ist, der 15 Runden gegen Apollo durchgestanden hat. In dem Moment erfüllt sich Rockys Bedürfnis nach Selbst-Respekt. Er ist nicht länger ein unbedeutender Niemand (und kann seine Liebe Adrian für sich gewinnen).
Am Anfang einer Geschichte kennt nur der Autor das unterbewusste Bedürfnis (NEED) der Hauptfigur. Wenn es soweit ist, kann der Autor dem Leser das Bedürfnis enthüllen, oder er lässt es verschleiert. Selten wird sich jedoch die Figur ihrer wahren Motivation bewusst. Wenn, dann kann dies nur am Ende der Geschichte geschehen, denn sobald die Figur sich dessen bewusst wird, würde sie ihr Ziel fahren lassen und dieses als neues Ziel verfolgen. Wird das Bedürfnis zu schnell erfüllt und die Leere in der Hauptfigur gestillt, so haben wir eine zufriedene Hauptfigur, die keine weiteren Ziele mehr verfolgen wird, und nicht versuchen wird, über sich selbst hinauszuwachsen. Diesen Fehler sehe ich häufig bei Liebesromanmanuskripten, in denen die Liebenden zu schnell  zueinanderfinden, sich ihr Herz ausschütten, so dass ihre Sehnsucht bereits gestillt ist.
Deswegen hängen Plot + Hauptfigur untrennbar zusammen: Der Autor entwirft eine Geschichte, die die Hauptfigur zwingt, sich ihren eigenen Dämonen zu stellen, er stellt sie vor Herausforderungen, die sie über sich selbst hinauswachsen lassen, und gibt ihr die Chance, die Leere in sich zu erkennen und zu füllen.
Dies ist die Wandlung, die die Hauptfigur durchmachen muss.
Natürlich ist dies vom Genre abhängig: Es gibt Geschichten und Genres, die ohne Charakterwandlung auskommen. In Action/Abenteuer/Thrillern braucht es selten ein unterbewusstes Motiv für die Taten des Helden, dieser handelt im Namen der Gerechtigkeit so wie James Bond. Beim Actionhelden ist die Welt aus den Fugen geraten und nur der Held kann sie retten. Solche Geschichten nennen wir „plot-driven“.

 

plot-driven vs. charakter-driven


Eine plot-driven Story definiert sich an dem äußeren Ziel, und die Motivation dahinter ist es, der Welt etwas zurückzugeben, was ihr fehlt oder genommen wurde: Frieden, Gerechtigkeit, Überleben ect. In rein charakter-driven Stories dagegen kämpft der Held darum, die Leere in sich selbst zu füllen: Liebe, Vertrauen, Hoffnung, Erwachsenwerden ect.
Plot und Charakter können nicht voneinander getrennt werden. Die Ereignisse in der Geschichte entstehen aus den Taten, Entscheidungen und Reaktionen der Hauptfigur. Die Hauptfigur wurde ausgesucht (oder erschaffen), weil sie auf bestimmte Ereignisse in einer bestimmten Art und Weise reagieren wird. Ändert man die Ereignisse, muss man die Figur ändern und umgekehrt.
Der größte Unterschied zwischen plot-driven und charakter-driven ist aber nicht das Genre, sondern die Frage, welche Kraft hinter den Ereignissen in den beiden großen Wendepunkten steht. In plot-driven Stories werden die Wendepunkte, vor allem im ersten Act (der Inciting Incident und der Break in Act II) von Kräften außerhalb der Kontrolle der Hauptfigur ausgelöst. Kriminelle begehen Straftaten, Diktatoren deklarieren Krieg, Monster greifen an, ein Komet rast auf die Erde zu ... In charakter-driven Stories werden die Ereignisse in den Wendepunkten des ersten Aktes durch den Protagonisten selber ausgelöst: Er verliebt sich, begeht eine Straftat, verrät seinen Auftraggeber, verlässt seine Frau, glaubt jemandes Lüge, sucht nach der Wahrheit ect. 
(Allerdings ist dies nicht immer ganz so klar definierbar, manchmal können Ereignisse miteinander gemixt werden. Eine Geschichte kann zu gleichen Teilen charakter+plot-driven sein, aber meistens neigt sich die Balance in eine Richtung.)
Letztendlich kommt es darauf an, was der Autor erzählen will: Verfasser von charakter-driven Stories wollen das innere Bedürfnis der Hauptfigur ausloten und die Figur auf die Probe stellen, um sie am Ende ihre Dämonen besiegen und zu einem besseren Selbst werden zu lassen (oder auch nicht). Und für diese Überwindung und Erfüllung ihrer Selbst lieben wir die Figuren. Wir lieben es, eine Figur zu sehen, die allen Widerständen zum Trotz nicht aufgibt, über sich hinauswächst und zu einem besseren, glücklicheren Menschen wird. Daher glauben wir, diese Figuren besser zu kennen, als unsere besten Freunde und schließen sie oft über Jahre in unsere Herzen. Auch oder gerade weil sie nicht perfekt sind, weil sie einen Fehler, einen Makel oder eine dunkle Seite haben. Die sympathischste Person kann dennoch illoyal sein, ein Lügner, Feigling, Egoist oder Schwächling sein. Wir verzeihen solche Makel, denn wir finden sie in uns selbst wieder. 

 

Die Hintergrundgeschichte


Wenn das wahre Gesicht einer Figur zum Vorschein kommt, braucht es eine Erklärung, warum diese Figur so geworden ist. Was hat sie zu einem Lügner gemacht, warum kann sie niemandem vertrauen? Der Autor sollte eine Hintergrundgeschichte entwerfen, die das dahinterliegende Ereignis erklärt, er sollte die Kränkung kennen, die das Verhalten der Figur beeinflusst. Hintergrundgeschichten interessieren uns, wir wollen wissen, wo jemand herkommt, was er bisher erlebt hat. Nicht umsonst ist das das Erste, was wir fragen, wenn wir jemanden kennenlernen: Wo bist du aufgewachsen/ zur Schule gegangen? Was machen deine Eltern beruflich? In welchen Ländern warst du schon? Die Vergangenheit definiert uns.
Manche Autoren schreiben richtige Biographien für ihre Hauptfigur, oder sie stellen ihrer Figur Fragen, wie in einem Interview. Das Interview hat den Vorteil, dass die Figur in ihren eigenen Worten Antworten muss, und so schon einmal ihre Sicht der Dinge und ihre sprachlichen Eigenarten zutage treten, sowie Dinge, die ihr vielleicht unangenehm sind. Daher ist es besser, eine Figurenbiographie nicht in der 3. Person zu verfassen, sondern lieber die Figur selbst zu Wort kommen zu lassen. So trainiert der Autor schon einmal die „Stimme“ der Figur, bekommt Einblick in ihre Gedanken.
Hintergrundgeschichten helfen uns zu verstehen, warum eine Figur so handelt, wie sie es tut. Oft reagiert jemand aus einem Trauma heraus, der frühe Tod der Eltern oder eines geliebten Menschen z.B. Aber dies sollte nicht übertrieben werden —Fingerspitzengefühl und psychologische Einsicht  sind gefragt. Oft dichten Autoren ihrer Hauptfigur eine Missbrauchsgeschichte in der Kindheit an, um sie zerbrochen und gequält darstellen zu können. Doch das ist zu einem so häufigen Klischee geworden, dass man es vermeiden sollte. Es braucht häufig gar nicht so traumatische Ereignisse: Wie im echten Leben werden wir durch viele kleine, scheinbar nebensächliche Kränkungen oder Niederlagen geprägt. Angst vor Nähe kann entstehen, wenn jemand sitzengelassen wurde, jemand wurde vielleicht zynisch, weil ihm häufig Ungerechtigkeiten widerfahren sind.
Viele Anfänger-Autoren begehen den Fehler, alles was sie in der Hintergrundgeschichte erfunden haben, auch dem Leser erzählen zu wollen, so dass sie diese Szenen durch Traumsequenzen, Flashbacks oder Monologe in die Handlung einschieben. Dabei ist es besser, nur anzudeuten, was in der Vergangenheit des Charakters geschehen sein mag. Die Hauptfigur charakterisiert sich durch ihre Taten. Es erzeugt Spannung, Ereignisse in der Vergangenheit nur anzudeuten. Je mehr Mysterium die Hintergrundgeschichte bleibt, umso neugieriger bleibt der Leser auf die Figur (das gilt ganz besonders für Seriencharaktere). Jedoch kann ein kleiner Einblick zur rechten Zeit am rechten Ort enorme Wirkung haben. Wenn die Hauptfigur große Entscheidungen treffen muss (vor allem am Break in Act I und Break inAct II), oder über seine Lage nachgrübelt (Debate, Dark night of the soul) kann ein guter Moment sein, etwas aus der Vergangenheit der Figur zu enthüllen.
Hintergrundgeschichten können übrigens verändert und angepasst werden, wenn während des Schreibens einem auffällt, dass etwas Bestimmtes fehlt. Man muss nicht chronologisch vorgehen, und das Leben der Hauptfigur seit seiner Geburt an aufschreiben. 

 

3-dimensionale Charaktere


Das ist es, was wir meinen, wenn wir von einem 3-dimensionalen Charakter sprechen:
-          Nach außen stellt die Figur eine Persönlichkeit dar, durch das was sie ist (Beruf, sozialer Status ect.) und wie sie sich gibt (Kleidung, Manierismen, Bildung). Dies ist die nach außen getragene Fassade, die einen erklärten Ziel folgt (WANT).
-         Darunter lauert das Unterbewusste Bedürfnis (NEED), das dem erklärten Ziel im Wege steht, und die Figur anders handeln lässt, als sie sollte.
-         Zu guter Letzt kommt die Wunde oder Makel dazu: Eine dunkle Seite oder schlechte Angewohnheit. Die Figur hat vielleicht gelernt, sich nur mit Gewalt durchzusetzen oder im Gegenteil, sich alles gefallen zu lassen.
Diese unterschiedlichen Dimensionen stehen im Kontrast zueinander, sie verhindern und bekämpfen sich und das macht den Charakter so faszinierend.



Darüber sprechen wir beim nächsten Mal: Motivation und das Problem mit passiven Protagonisten

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