Mittwoch, 15. Mai 2013

Teil 3: Third Person subjective

Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil III



Wenn in der Erzählhaltung der Dritten Person alles aus Sicht der Figur erzählt wird, sollte dann nicht auch alles eine deutlich subjektive Färbung haben? Heißt „aus der Sicht der Figur“ nicht, dass keine Objektivität mehr möglich ist?
Recht hat Deiner Einer!

Ich nenne diese Erzählhaltung „Third Person subjective“. Zwar ist sie genau genommen keine eigene Erzählhaltung, sondern mehr eine Ausrichtung in Erzählweise und Stil, aber dennoch nimmt das Literaturkaninchen hier in seiner Ringtheorie der Erzählhaltungen den Standpunkt ein, es handele sich um eine eigene Erzählhaltung.
Die Regeln für den Third Person Subjective sind genau dieselben wie die für den Third Person objective, so gibt es keine Außenansicht auf die Figur, alles ist aus der Sicht der Figur in Form eines „er“ oder „sie“ geschrieben, der Erzähler hat Einblick in die Gedanken der Perspektivfigur, aber er darf nicht kommentieren oder werten.
Stattdessen kommentiert und bewertet die Figur selbst.

Beispiel:
 „Ich ernenne euch hiermit offiziell zum Strafpräfekten“, fuhr der Clubmeister fort und schlug den beiden mit dem Silberstab auf die Schultern, „und ich ermahne euch, eine gute Erziehungsleistung im wahren Geiste Stjärnsbergs zu vollbringen. Wenn ich das Karo verlassen habe, darf es niemand mehr betreten, und der Kampf dauert an, bis eine Seite auf den Knien hinauskriecht. Der Kampf möge beginnen!“
Wieder brach der Jubel los, und der Clubmeister stieg von der Platte und stellte sich in die erste Reihe der Abiturienten und Ratsmitglieder. Eriks Gegner hoben die Hände vors Gesicht und kamen auf ihn zu. Erik behielt die Hände in den Taschen und betrachtete seine Widersacher. Der größere und schmalere, ohne Jackett, hatte eine lange Nase, deren Bein direkt unter der Haut zu liegen schien. Der Typ im Jackett war um die Taille ein wenig zu dick, um sich rasch bewegen zu können. Aber sie hielten die Hände wie auf Boxerfotos aus den Dreißigerjahren, die rechte Faust vor den Mund, die linke in Mundhöhe gerade ausgestreckt. Es sah bescheuert aus. Und kämpfen konnten sie einwandfrei nicht. Also musste es möglich sein, ihnen Angst zu machen und zu gewinnen. Ihre Angst lag garantiert dicht unter der Oberfläche, man musste nur ein wenig daran herumkratzen. Natürlich machte es sie unsicher, dass Erik sich nicht bewegte, sondern einfach mit den Händen in den Hosentaschen dastand. Sie kamen noch ein wenig näher, waren aber noch nicht nahe genug für einen Schlagabtausch. Erik wartete, bis sie fast in Reichweite waren, dann begann er, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
(S. 145/146)

Der Roman „Evil“ ist durchgehend aus der Sicht einer einzigen Figur geschrieben, des Protagonisten Erik, eines 14-jährigen Jungen, der sich auf einem Internat für Schwererziehbare durchsetzen muss, wo Prügeleien an der Tagesordnung sind. Erik war früher ein Bandenmitglied; er hat viele Schlägereien hinter sich und weiß, wie man kämpft.
Das hat große Auswirkungen darauf, wie die Szene beschrieben ist.
Wir befinden uns in Eriks Kopf, alles was beschrieben wird, ist etwas, das Erik wahrnimmt oder denkt. Die dünne Nase des Gegners, die leicht zu brechen sein wird. Die etwas zu dicke Taille, die den Gegner unbeweglich macht. Alles Details, die Erik auffallen.
Diese Art der Beschreibung lässt uns nicht nur das Geschehen unmittelbar in Eriks Kopf miterleben, so als wären wir dabei; es charakterisiert auch noch den Protagonisten Erik eindrucksvoll, der in solch einer unangenehmen Situation wie der da oben einen kühlen Kopf bewahrt (cool die Hände in den Taschen), seine Gegner abschätzt und einen Plan entwickelt, wie er sie fertig machen kann – obwohl sie zu zweit sind und älter und stärker als er.

Nun gut, Erik bewahrt also einen kühlen Kopf.
Was passiert aber, wenn ich eine Figur als Hauptfigur habe, die keinen kühlen Kopf bewahrt, die in Panik gerät, benommen ist oder eine verzerrte Wahrnehmung hat (weil sie z.B. unter Drogen steht, verletzt ist, dem Wahnsinn verfallen)?
Sollten sich die Beschreibungen dann nicht diesem Umstand anpassen?
Ja, durchaus.

Ein Beispiel:
Sonnenschein sickerte durch die Ritzen der Fensterläden, als sie erwachte. Sie setzte sich langsam auf, lehnte sich auf die Ellbogen gestützt an den Kopfteil des Betts und wartete darauf, dass ihr Blick klar werden und das Summen in ihren Ohren aufhören würde. Sie schluckte mehrmals, um ihren Mund anzufeuchten, der so ausgetrocknet war, als hätte man einen Wattebausch in ihn hineingestopft. Dann schwang sie die Beine aus dem Bett, um aufzustehen.
Das Zimmer drehte sich; sie schwankte so heftig, dass sie zu stürzen fürchtete. Ihr Kopf erschien ihr ungeheuer schwer, ein Riesengewicht, das ihr gebrechlicher Körper kaum tragen konnte. Nieder mit Jane Whittacker, dachte sie, und ließ sich wieder auf das Bett zurückfallen.
Beide Hände auf die Bettkante gestützt, saß sie da und sah zu den Spiegeln hinüber. „Jane Whittacker“, sagte sie feierlich zu ihren schwankenden Spiegelbildern. „Wer zum Teufel bist du?“
Die Spiegelbilder schwankten noch stärker und entzogen sich ihrem Blick, als eine Welle von Schwindel und Übelkeit sie wieder in die Kissen zurückwarf. „Immer langsam voran“, ermahnte sie sich, wohl wissend, dass sie sonst überhaupt nicht auf die Beine kommen würde.
(S.117)

Jane Whittacker hat ihr Gedächtnis verloren. Sie weiß nichts mehr außer den Namen, den man ihr genannt hat.
Janes Wahrnehmung ist gestört, sie ist benommen und sieht ihr Umfeld wie durch eine schwankende Kamera. Denn man hat ihr Medikamente verabreicht.
Beachte, dass, wie es sich für den Third Person Narrator gehört, alles aus Janes Sicht geschrieben ist. Der Leser bekommt keinen Blick von außen auf die Figur Jane. Desweiteren beziehen sich die Beschreibungen hauptsächlich darauf, wie Jane sich fühlt. Im Gegensatz zu Erik analysiert sie nicht ihre Umgebung und Situation, sondern spürt ihren trockenen Mund, hört Summen in ihren Ohren, sieht Sonnenlicht sickern, empfindet ihren Körper als bleischwer, Übelkeit steigt in ihr auf …

Vergleiche diese Szene mit der von Phillip Pullman in „Der Goldene Kompass“. Beide sind in der Erzählhaltung der Dritten Person beschrieben.
Was ist anders?

Noch ein Beispiel:

Zwar war Berha Young schon dreißig, aber noch immer gab es für sie Augenblicke wie eben, da sie es danach verlangte zu rennen, statt zu gehen, die Bordsteinkante auf und ab zu tänzeln, einen Reifen zu treiben, etwas in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen oder stillzustehen und zu lachen – über nichts – einfach so über nichts zu lachen.
Was kann man denn auch tun, wenn man dreißig ist, in seine eigene Straße einbiegt und plötzlich von einem Gefühl der Seligkeit überwältigt wird – reiner Seligkeit! -, als hätte man mit einemmal ein strahlendes Stück dieser Spätnachmittagssonne verschluckt, und nun brannte es einem in der Brust, und winzige Funkenregen stoben durch den ganzen Körper, in jeden Finger und jede Zehe? …
Ach, gibt es denn keine Möglichkeit, das auszudrücken, ohne „öffentliches Ärgernis“ zu erregen? Wie idiotisch doch die ganze zivilisierte Welt ist! Wozu hat man denn einen Körper, wenn man ihn wie eine seltene, ach so seltene Geige in einen Kasten schließen muß?
„Nein, das mit der Geige trifft nicht ganz, was ich meine“, dachte sie, als sie die Stufen hinauflief, in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte – sie hatte ihn vergessen, wie üblich – und dann mit dem Briefkastendeckel klapperte. „Das ist`s nicht, was ich meine, weil –Danke, Mary“ – und sie ging in die Diele. “Ist die Kinderfrau wieder zurück?“
„Ja, Ma`m“
„Und ist das Obst angekommen?“
„Ja, Ma`m, `s ist alles da.“
„Bringen Sie das Obst bitte ins Esszimmer, ja? Ich möchte es arrangieren, ehe ich hinaufgehe.“
Im Esszimmer war es dämmrig und ziemlich kühl. Dennoch warf Berha den Mantel ab; sie konnte den beengenden Druck keinen Augenblick länger ertragen, und die kalte Luft fiel ihr auf die Arme.
Doch in ihrer Brust spürte sie noch immer diese strahlende Glut – diese winzigen Funkenregen, die davon ausstoben. Es war beinahe unerträglich. Sie wagte kaum zu atmen, aus Angst, die Flammenglut höherzufächeln, und doch holte sie ganz, ganz tief Luft.[...]
Auf einem Tablett brachte Mary die Früchte herein, dazu eine Glasschüssel und eine blaue Schale, sehr hübsch, die ganz seltsam schimmerte, als wäre sie in Milch getaucht worden.
„Soll ich das Licht anmachen, Ma`m?“
„Nein, danke. Ich kann genug sehen.“
Da waren Mandarinen und Äpfel mit erdbeeroten Flecken. Gelbe, seidenweiche Birnen, helle, mit einem silbernen Hauch überzogene Weinbeeren und eine üppige purpurrote Traube.
Letztere hatte sie gekauft, weil sie so gut zu dem neuen Teppich im Esszimmer passte. Ja, das klang wohl ziemlich ausgefallen und lächerlich, aber sie hatte sie wirklich deswegen gekauft. Sie hatte in dem Geschäft gedacht: “Ich muß purpurrote mitnehmen, damit sich die Farbe des Teppichs auf dem Tisch wiederfindet.“ Und es war ihr dabei ganz vernünftig vorgekommen.
Als sie damit fertig war und aus diesen glänzenden runden Formen zwei Pyramiden gebaut hatte, trat sie vom Tisch zurück, um die Wirkung zu prüfen – und die war wirklich recht seltsam. Denn der dunkle Tisch schien mit dem Dämmerlicht zu verschmelzen, und die Glasschüssel und die blaue Schale schwebten gleichsam in der Luft. Das war besonders in ihrer augenblicklichen Stimmung so unglaublich schön … Sie brach in Lachen aus.
„Nein, nein, ich werde langsam hysterisch.“ Und sie griff Tasche und Mantel und lief hinauf ins Kinderzimmer.

Dieses Beispiel kombiniert sehr schön, was ich anhand der anderen Beispiele zeigen wollte:
Bertha Young sieht Sachen, die nur eine Bertha Young sehen würde (welches Obst farblich zu ihrem Teppich passt); gleichzeitig reflektiert sie darüber, was das über sie selbst aussagt („Das klang wohl ziemlich ausgefallen und lächerlich“) und sie sieht die Dinge nicht nur, sondern gibt ihnen eine Bewertung („ … eine blaue Schale, sehr hübsch …“.
Kurz: Wir erleben hier eine sehr subjektive Sicht auf die Welt.


Die Erzählhaltung des Third Person subjective eignet sich daher vor allem für Geschichten, bei denen innerpsychologische Vorgänge im Vordergrund stehen, wie z.B. Familiendramen, Psychothriller, Coming – of –age Romane, Liebesgeschichten und Horror.

In seiner extremsten Ausprägung taucht der Leser dann so sehr in die Gedankenwelt der Figur ein, dass er nur noch einem Gedankenfluß lauscht und kaum noch Fakten über die Außenwelt erhält. So einen Absatz nennt man „Stream of consciousness“. James Joyce und Virginia Woolf sind die Vorreiter dieser Technik. Sie trieben es so weit, ganze Romane als einen einzigen langen Gedankenfluß zu schreiben (Ullysses; Mrs Dalloway), was der Grund ist, warum diese Romane als schwer lesbar gelten. Und warum sie gleichzeitig so genial sind.
Ein Stream of consciousness muss aber nicht so lang sein, er kann über wenige Absätze oder Zeilen reichen und dann zu einer objektiveren Beschreibung zurückführen.
Häufig findet man diese bei einem Ich-Erzähler und in der Tat ist der Third Person subjectiv dem Ich-Erzähler sehr nahe (so nahe, dass man problemlos jedes „er“ oder „sie“ in ein „ich“ abändern kann. Auch hier ein guter Trick zum Überprüfen, ob man keine Fehler in der Perspektive gemacht hat.)

Und ihr habt es schon gemerkt: Der Third Person subjective bietet ein hohes Maß der Identifikation des Lesers mit der Figur.
Manche sagen, sogar das höchste.
Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 3


Zusammenfassung: „Third Person subjective“

-        Regeln wie beim Third Person objective
-        Alles wird durch die subjektive Färbung der Sicht der Figur erzählt
-        Beschränkt sich häufig auf eine einzige Figur (Protagonisten)
-         Wenn aus der Sicht mehrerer Figuren, so sollte jede Figur eine eigene, einzigartige Sichtweise auf die Dinge haben (eine eigene „Voice“), die die Figuren klar von einander unterscheidbar macht
-         spielt viel Gedanken/Innenwelt der Figur, stream of consciousness, sehr dicht am „Ich-Erzähler“
-         Vorteil: Sehr hohe Identifikation des Lesers mit der Figur
-         Geeignet für Familiendramen, Psychothriller, Coming – of –age, Liebesgeschichten, Horror – alles mit Fokus auf innerpsychologische Vorgänge

Hausaufgabe:

Nehme den Anfang von „Der Goldene Kompass“ und schreibe die Geschichte von Lyra und ihrem Dämon von Third Person objective in einen Third Person subjective um.
 
Was denkt und fühlt Lyra, wenn sie den Speisesaal betritt? Angst, Vorfreude, Abenteuerlust? Wie beschreibt Lyra die Porträts der Direktoren an den Wänden? Vielleicht als streng dreinblickende, ältere Herren. Oder als aufgeblasene Säcke mit steifen Halskrausen.
Lass deiner Phantasie freien Lauf, erfinde die Figur der Lyra ruhig neu, oder schicke jemand anderen in den gleichen Speisesaal. Wichtig dabei ist nur, dass du übst, allem eine subjektive Färbung zu verleihen.

Nächtes Mal beschäftigen wir uns mit dem Ich-Erzähler, hier.

Samstag, 4. Mai 2013

Teil 2: Third Person Objective Narrator

Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil II


In der Erzählhaltung des Third Person Objective Narrator erzählt der Erzähler die Geschichte aus der Sicht der Figur, aber er ist nicht mit der Figur verschmolzen wie beim „Ich-Erzähler“, sondern er schreibt als „er“ oder „sie“. Third Person Erzähler können keinen Blick von außen auf die Figur werfen, es sei denn, sie betrachtet sich selbst in einem Spiegel.

Der Third Person Narrator hat Einblick in die Gedanken der Figur, kann also „dachte er/ wünschte sie“ schreiben; aber er beschreibt alles ausschließlich durch die Augen der Figur, d.h. er kann nur beschreiben was die Figur sieht und erlebt, nichts was sich an anderen Orten oder Zeiten abspielt.

Er darf seine Figuren auch nie mit einer Beschreibung benennen wie „Der Zauberlehrling“ oder „Die Dämonenjägerin“ sondern muss „Buffy“ sagen oder „sie“, denn er darf als Erzähler nicht werten oder kommentieren.

Beispiel:


Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. »Was ist mit mir geschehen?«, dachte er.



Merkst du wie Kafka versucht, alles aus der Sicht der Figur zu beschreiben? Er beschreibt, wie Gregor Samsa an sich selber herunterguckt, alles ist durch seine Augen gesehen, es gibt keine „Kamera“ die von außen auf die Figur guckt. Das ist für diese Geschichte ungeheuer wichtig, denn die Frage ist, ob alles nur in Gregors Einbildung stattfindet oder ob er sich wirklich auf irgendeine magische Art und Weise eines Morgens in einen Käfer verwandelt hat. Ein objective Narrator, der keinen Einblick in die Gedanken einer Figur hat, hätte also diese Geschichte nicht erzählen können.


Anderes Beispiel:
Astrid Lindgren: „Kalle Blomquist“

„Blut! Daran ist nicht zu zweifeln!“ Er starrte durch das Vergrößerungsglas auf den roten Fleck. Dann schob er die Pfeife in den anderen Mundwinkel und seufzte. Natürlich war es Blut. Was war denn auch sonst schon zu sehen, wenn man sich in den Daumen geschnitten hatte? […] Er hob widerstrebend seinen Blick von dem Blutfleck und schaute aus dem Fenster. Die Hauptstraße lag träumend und im tiefsten Frieden in der Sommersonne. Die Kastanien blühten. Es war keine lebendes Wesen zu sehen außer der grauen Katze des Bäckers, die auf der Kante des Bürgersteiges saß und sich die Pfoten leckte. Nicht dass allergeübteste Detektivauge konnte etwas entdecken, was darauf hindeutete, dass ein Verbrechen begangen worden war. Es war wirklich ein hoffnungsloses Beginnen, in dieser Stadt Detektiv zu sein! Wenn er groß war, würde er, sobald sich eine Möglichkeit bot, in die Londoner Slumbezirke ziehen. Oder vielleicht besser nach Chikago?
Der Alte wollte, dass er im Geschäft anfangen sollte. Im Geschäft! Er ! Ja, das könnte denen so gefallen, allen Mördern und Banditen in London und Chikago!


Auch hier wieder: Der Blick aus dem Fenster auf die Strasse, durch das Vergrößerungsglas auf den Blutfleck, alles ist aus der Sicht von Kalle beschrieben. Der Leser sieht nur, was Kalle sieht, erfährt nur, was Kalle erlebt. Der Leser lauscht außerdem Kalles Gedanken. Das ist für den Leser so natürlich, dass es keinerlei Kennzeichnung mit Anführungszeichen oder dem ständigen Zusatz „dachte er“ braucht. 

Noch ein Beispiel:
Der Goldene Kompass. His-Dark-Materials 01

An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen, schlichen Lyra und ihr Daemon durch den dämmrigen Speisesaal. Die drei großen Tische, die die ganze Länge des Saales einnahmen, waren bereits gedeckt, die langen Bänke für die Gäste augestellt, und Tafelsilber und Gläser funkelten im letzten Tageslicht. Hoch oben an den Wänden hingen die Porträts früherer Rektoren. Am Saalende angekommen, blickte Lyra zur offenen Küchentür zurück, und als sie dort niemanden sah, stieg sie zu dem Tisch auf dem Podium hinauf. Er war mit Gold statt mit Silber gedeckt und statt der Eichenbänke standen dort samtgepolsterte Mahagonistühle.
Am Platz des Rektors blieb Lyra stehen und schnippte vorsichtig mit dem Fingernagel an das größte Glas. Der helle Klang war im ganzen Saal zu hören.
„Das ist nicht der Ort für solche Späße“, flüsterte ihr Daemon. „Reiß dich gefälligst zusammen.“ […] „Worüber sie heute wohl reden werden?“, sagte Lyra oder vielmehr wollte sie sagen, denn noch bevor sie die Frage beenden konnte, hörte sie vor der Tür Stimmen. „Hinter den Sessel – schnell!“, flüsterte Pantalaimon und schon war Lyra aufgesprungen und kauerte hinter der Lehne. Der Sessel war allerdings kein gutes Versteck: Er stand in der Mitte des Zimmers, und wenn sie nicht ganz leise war …
Die Tür ging auf und es wurde hell: Einer der Ankömmlinge trug eine Lampe, die er auf der Anrichte abstellte. Lyra konnte seine Beine sehen; sie steckten in dunkelgrünen Hosen und schwarzglänzenden Schuhen – ein Diener also.


Dieses Beispiel ist ein wenig schwieriger, denn die Beschreibungen klingen fast so, als könnten sie auch ein Blick von außen auf die Figur sein. Bei genauerem Hinsehen merkt man aber, dass sie das nicht sind. Der Autor Phillip Pullmann hat streng darauf geachtet, nur das zu beschreiben, was von der Figur Lyra auch gesehen und wahrgenommen werden kann. (Die Hosenbeine des Dieners z.B.)



Der Erzähler beschreibt uns also die Ereignisse anstatt aus der neutralen Haltung eines Beobachters, aus der Sicht einer Figur. Als solcher limitiert er sich (und wird deshalb auch manchmal „Third person limited“ genannt), denn er kann nur wiedergeben, was die Figur sieht, spürt und denkt, nichts was an anderen Orten oder außerhalb der Wahrnehmung der Figur, die gerade der Perspektivträger ist, stattfindet.

Als solcher kann er also nicht schreiben „Die Tür ging auf und John betrat den Raum“, wenn Marie mit dem Rücken zur Tür sitzt, sondern er müsste schreiben: „Marie hörte wie die Tür geöffnet wurde und drehte sich um. Sie sah, wie John den Raum betrat.

Die Figur, aus deren Sicht gerade alles beschrieben wird, kann allerdings wechseln. So kann das eine Kapitel aus der Sicht des Mörders, das andere aus der Sicht des Opfers und wieder ein drittes aus der Sicht des Detektivs sein.

Aber Achtung: Die Figur, aus dessen Sicht erzählt wird, darf niemals von einem Satz auf den anderen wechseln, sondern nur von Kapitel zu Kapitel; maximal von Szene zu Szene, aber nur wenn der Wechsel klar gekennzeichnet ist. Ein falscher oder nicht gekennzeichneter Wechsel führt zu sog. „Headhopping“ und ist ein häufiger Anfängerfehler, der Verlagslektoren übel aufstößt und den Leser verwirrt.


Um seinen Text auf Richtigkeit zu überprüfen, gibt es einen Trick:

Man ersetzt einfach alle „er“ durch „ich“. 
Das ist in der „Third Person objective Erzählhaltung“ beinahe reibungslos möglich. Wenn Deiner Einer nach dem Umstellen ein Satz oder eine Beschreibung auffällt, die ein „ich“ so nicht hätte sagen können, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Perspektivbruch und muss gestrichen oder umgeschrieben werden.

Es empfiehlt sich, vorher festzulegen welche Figuren als Perspektivträger fungieren sollen und sich in der Auswahl zu limitieren, evtl. sogar bei nur einer einzigen Person (üblicherweise der Hauptfigur) zu bleiben.

Beachte: Wenn deine Perspektivfigur auf eine andere trifft, kann sie nicht wissen, was diese denkt und fühlt und ist auf äußere Merkmale wie Mimik und Gestik angewiesen und auf Vermutungen. Das bedeutet, dass Kalle Blomquist nicht wissen kann, warum seine Freundin Liese - Lotte heute so gereizt ist. Ist sie sauer auf ihn oder hat sie nur Hunger?
Und natürlich kann deine Perspektivfigur sich irren.
Der freundlich lächelnde Onkel Einar kann doch nie und nimmer in ein Verbrechen verwickelt sein, oder?
Falsch gedacht, Kalle ! Er ist ein Juwelendieb und Betrüger !

Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 2




Obwohl diese Erzählhaltung also personal (aus der Sicht einer Figur) ist, ist der Erzähler dennoch vorhanden und „neutral“, denn er beschreibt in einem nüchternen Ton wie ein objective Narrator. Daher nenne ich diese Erzählhaltung „Third person objectiv“. (Wie es klingt, wenn der Erzähler seine Objektivität aufgibt, zeige ich euch beim nächsten Mal, beim Third Person Subjektiv.)

In der objektiven Variante herrscht eine gewisse Distanz zum Erzählten, was den Vorteil hat, dass „Wegwerf- Perspektivträger“ möglich sind (die in einer Szene auftauchen und in der nächsten bereits wieder sterben; das widerspricht meinem Rat oben, sich auf wenige Figuren zu limitieren, wird aber im Bereich Thriller häufiger gemacht). Vor allem Romane mit actionlastigen Plots oder mit Settings die in anderen Welten oder Zeiten spielen sind häufig in dieser Perspektive. Der Identifikationsfaktor mit den Figuren ist nicht so hoch, wie in anderen Erzählhaltungen; aber dennoch (oder gerade deswegen?) ist diese Erzählhaltung bei vielen Lesern sehr beliebt.



Zusammenfassung: „Third Person objective“



-        Objektiver Erzähler, der aus der Sicht der Figur erzählt. „er/sie“

-        keine Außenansicht auf die Figur.

-        Hat Einblick in Gedanken oder Gefühle, gekennzeichnet mit „dachte er/ wollte er/ wünschte er ect.“, aber nur von einer Figur zur Zeit.

-        Erzähler versteckt; kommentiert/wertet nicht, darf Leser nicht direkt ansprechen

-        Ausschließlich „reliable“ Erzähler

-        Ist nicht frei in Zeit und Raum, kann nur über Ereignisse berichten, die die Figur erlebt, ist an eine Figur gebunden.

-        „Er“ kann problemlos durch „ich“ ersetzt werden. (Trick zum überprüfen)

-        Vorteil: Distanz zum Erzählten, „Wegwerf-Charaktere“ möglich, geeignet für actionlastige Plots und fantastische Settings.

-        Darf seine Figuren nie mit einer Beschreibung nennen(nicht "die Dämonenjägerin", sondern "Buffy")

-        Fordert szenisches erzählen.



Hausaufgabe:

Nehme eines der obigen Textbeispiele oder einen eigenen Text und schreibe ihn um in die in Teil I beschriebene Erzählhaltung des „Objective Narrators“. Beachte, dass du dabei keinerlei Gedanken und Gefühle der Figuren beschreiben darfst, sondern alles nur neutral von außen beobachten.
Wo stößt du auf Schwierigkeiten? 
Wie kannst du die für den Leser wichtigen Informationen anders unterbringen? 

Übung Nr 2:
Schreibe eine Szene, in der Kalle Blomquist auf eine andere Figur trifft, dieses mal als "Third Person objective".
Liese-Lotte ist hungrig und gereizt und Onkel Einar ist in Wahrheit gar nicht Onkel Einar, sondern ein Juwelendieb und Betrüger.
Wie gestaltet sich das Zusammentreffen dieser Figuren aus der Sicht von Kalle - nur mit Einblick in Kalles Gedanken nicht in die der anderen Figuren?