Montag, 9. Dezember 2013

Sonderformen der Erzählhaltung Teil 3: Der Watson Charakter



…oder: Wer ist hier die Hauptfigur?


Wenn ein Autor sich für die Erzählhaltung des Ich-Erzählers entscheidet, dann wohl hauptsächlich, weil er eine faszinierende und starke Hauptfigur hat, die ihre Geschichte dem Leser aus ihrem eigenen Munde erzählen soll.

In den meisten Fällen wählt man also seinen Protagonisten zum Ich-Erzähler. 
Doch es gibt Ausnahmen. 
In der Erzählhaltung des „First Person Periphal Narrators“ ist der Erzähler ein Charakter in der Geschichte, der nur Zeuge der Handlung ist und die Aktivitäten der Hauptfigur dem Leser berichtet. Dabei kann dieser „Periphal Narrator“ entscheidenden Anteil an dem Verlauf der Handlung haben und bei jeder Action mit dabei sein, ja sogar den Antagonisten im Kampf besiegen, aber er ist dennoch nicht die Hauptfigur.
Ein berühmtes Beispiel für diesen Erzählertyp ist F. Scott Fitzgerald’s Der große Gatsby.Die Geschichte von Gatsby wird nämlich durch die Augen von Nick Carraway erzählt.

Als ich letzten Herbst aus dem Osten zurückkam, wünschte ich mir jedenfalls, die ganze Welt wäre noch in Uniform und würde moralisch weiterhin strammstehen; ich wollte keine zügellosen Exkurse und allzu vertraulichen Einblicke in das menschliche Herz mehr. Nur Gatsby, der Mann, der diesem Buch den Namen gibt, war davon ausgenommen – ausgerechnet Gatsby, der alles repräsentierte, was ich ehrlich verachte.“


Als “Periphal Narrator” beobachtet Nick die Vorkommnisse, nimmt Teil an den Partys und reagiert auf die Handlung von welcher er ein Teil ist, aber das Hauptaugenmerk ist und bleibt die ganze Zeit bei Gatsby.
Es sind Gatsbys Lieben und Leidenschaften, denen wir folgen. Von Nick erfahren wir nur wenig.
Links: Toby Mcguire als Nick Carraway; Rechts: Leonardo DiCaprio als der Große Gatsby.


Während der Periphal Narrator also nicht selbst der Fokus der Handlung ist, ist er dennoch der Fokus der Erzählung, denn seine Beobachtungen und die Interpretation dieser spielen eine bedeutende Rolle in der Entfaltung der Geschichte. Dabei muss er aber mehr tun, als nur objektiv (oder subjektiv) zu berichten. Sonst wäre er ja ein objektive Narrator und man könnte die Figur weglassen. Die Figur des peripheren Ich-Erzählers sollte durch die Ereignisse, die sie beobachtet, eine Wandlung durchmachen und am Ende ein Fazit (moralischer Art) ziehen. Seine Beschreibungen und Gedanken während der Geschichte müssen diese Wandlung widerspiegeln.
Es sind die Leidenschaften Gatsbys, aber auf Nick üben sie eine große Wirkung aus.

Der Periphere Erzähler wird auch “Watson-Charakter” genannt.
Benannt nach niemand anderem als Dr Watson, dem Gefährten des berühmten Detektivs Sherlock Holmes.
Sir Arthur Conan Doyle hat sich nämlich als einer der ersten dieses Tricks bedient und seine Detektivgeschichten nicht durch die Augen seiner Meisterdetektivfigur, sondern durch dessen Sidekick und Freund Dr Watson beschrieben.
Und Deiner Einer könnte sich zu Recht fragen, warum Doyle nicht einfach Sherlock selbst hat seine Fälle berichten lassen. Das könnte doch wohl niemand besser als er, oder?
Nun, Sherlock - wenn auch unbestreitbar die Hauptfigur - eignet sich aus vielen Gründen leider nicht zum Erzähler: er ist hochintelligent aber arrogant; er ist von sich selbst eingenommen, emotional kalt und weigert sich oft, sein Wissen mit Außenstehenden zu teilen, da diese ihm zu langsam denken. Für den Leser könnte es schwierig sein – und ermüdend - den komplizierten Hirnwindungen des Sherlock Holmes zu folgen, während dieser gleichzeitig ein Dutzend verschiedener Theorien in seinem Kopfe wälzt und wieder verwirft … Kurz: Sherlock wäre ein mieser Erzähler.
Sein Freund Watson dagegen berichtet amüsant und emotional, befindet sich auf Augenhöhe mit dem Leser und hält auch nicht mit Kommentaren über Sherlocks Eigenarten hinter dem Berg:


„Ich werde Ihnen nicht viel mehr über den Fall erzählen; Doktor (Watson). Sie wissen schon: Ein Zauberer bekommt keinen Applaus mehr, wenn er erst seinen Trick verraten hat; und wenn ich Ihnen zu viel von meiner Arbeitsmethode zeige, werden Sie zu dem Schluß kommen, dass ich schließlich doch ein ganz gewöhnliches Individuum bin.“
„Zu diesem Schluß werde ich niemals kommen“, sagte ich. „Sie haben die Detektion einer exakten Wissenschaft so weit angenähert, dass man Sie in dieser Welt nicht mehr übertreffen wird.“
Mein Gefährte errötete vor Freude ob meiner Worte und der ernsthaften Art, in der ich sie vorbrachte. Ich hatte bereits festgestellt, dass er für Schmeicheleien über seine Kunst so empfänglich war, wie nur je ein Mädchen, wenn es um ihre Schönheit geht.

Nicht immer ist es also angebracht, in die Gedankenwelten der Hauptfigur einzutauchen, und sei sie noch so faszinierend.
Außer den oben genannten Gründen kann es dafür noch folgende geben:

  1. Die Hauptfigur soll am Ende der Geschichte sterben.
  2. Der Autor möchte, dass der Leser sich wundert, was die Hauptfigur eigentlich denkt/ vorhat, oder die Hauptfigur hat ein Geheimnis, dass dem Leser noch nicht bekannt sein darf.
  3. Die Hauptfigur versteht selber nicht, was um sie herum geschieht, aber der Autor will, dass der Leser eine klare Vorstellung davon hat.
  4. Die Hauptfigur macht keine bedeutende Wandlung durch. Tatsächlich hat die Handlung einen größeren Einfluss auf den Beobachter.
  5. Die Hauptfigur hat (Superhelden-)Fähigkeiten, die nicht von seiner eigenen Perspektive aus dargestellt werden können, ohne angeberisch zu wirken (anstatt cool).
  6. Der Autor stellt fest, dass die Leser sich nur schwer mit der Hauptfigur würden identifizieren können, mit einer der Nebenfiguren aber schon.
Und im Falle von Sherlock hat diese Konstellation mit Watson als Erzähler auch noch den schönen Vorteil, dass der Meisterdetektiv (wie es sich für einen klassischen Krimi gehört) am Ende alle Verdächtigen sowie die Detectives von Scotland Yard  in einem Raum um sich versammeln kann, um genüsslich Schritt für Schritt preisgeben zu können, wie schlau er eigentlich diesen Fall gelöst hat.
Dr Watson inklusive, der genau wie der Leser noch immer auf dem Schlauch steht.


Und nun, Gentleman“, fuhr er mit einem munteren Lächeln fort, “sind wir am Ende unseres kleinen Rätsels. Sie dürfen mir jetzt gern alle Fragen stellen, die mir zu stellen Sie wünschen, und es besteht keine Gefahr mehr, dass ich mich etwa weigern könnte, sie zu beantworten.“

- Sherlock Holmes in „Eine Studie in Scharlachrot“
 

2 Kommentare:

  1. Es gibt noch einen weiteren Grund für Dr. Watson als Erzähler.
    Wir befinden uns im 19. Jahrhundert, Geschichten aus und über Afrika, Amerika, unerforschte Gebiete, Medizin und Wissenschaft haben Konjunktur.
    Der geneigte Leser will aber nicht nur fantastische Geschichten hören, er möchte, dass sie jemand erzählt, der vertrauenswürdig ist, dem man die unglaublichen Erlebnisse glauben kann.
    Die Geschichte von Dr. Frankenstein wird von einem honorigen Forscher und Entdecker erzählt, Jules Verne lässt ebenso gerne glaubwürdige Nebendarsteller, Freunde des Protagonisten auftreten und erzählen, stets gebildet, Männer der Wissenschaft und dadurch mit der Aura der Seriösität umgeben.
    Auch darum brauchte Mr Holmes einen Doktor zur Seite, einen Kriegsveteranen, der schon was gesehen und erlebt hat. Watsons Lebenserfahrung, sein Studium, seine Ehrlichkeit machen Holmes erst zu "dem" Holmes.
    Ein "einfacher" Mitbewohner, ein Adlatus, ein williger Mitläufer war schlichtweg ungeeignet, um Holmes' Genialität zu bezeugen.

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  2. Das stimmt natürlich, gut beobachtet, Yeti !
    Fällt jemandem ein modernes Beispiel für einen "Watson-Charakter" ein?
    Haben hier gestern abend diskutiert, ob Tyler Durden aus "Fight Club" (bzw. der namentlich unbekannte Ich-Erzähler) in diese Kategorie fallen. Wäre jedenfalls eine sehr freche Variante, wenn man bedenkt, dass sich am Ende Durden als nicht existent herausstellt ... ;)

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