Dienstag, 7. Januar 2014

Tempus fugit ...


...oder welche Erzählzeit wähle ich?





Wie die Zeit vergeht. Schon haben wir 2014 und mein Spiegelbild behauptet ich hätte ein erstes graues Haar. Als ob. Das liegt nur an der Beleuchtung. Oder der Umweltverschmutzung. Jedenfalls bringt mich das zu einem Thema, das irgendwie auch noch mit Erzählhaltungen zu tun hat (obwohl ich das Thema ja nun wirklich langsam ad acta legen wollte), aber dennoch ein ganz anderes wichtiges und häufig unüberlegt benutztes Werkzeug der Romanschreiberei ist, und zwar: Die Erzählzeit.

Dem Autor von Romanen stellt sich nämlich die Frage: Erzähle ich meine Geschichte im Präsens oder im Präteritum?

Und was ist der Unterschied?

Normalerweise werden Geschichten im Präteritum erzählt. Da Romane aus einer mündlichen Erzähltradition heraus entstanden sind, ist das ganz natürlich, denn wir können nur über etwas berichten, das bereits passiert ist, also in der Vergangenheit liegt. Das bedeutet, dass wir immer aus einem Abstand heraus, also in der Retrospektive, über Ereignisse berichten und dabei automatisch eine Auswahl und eine Bewertung treffen. Wie ein klassischer Erzähler eben, den wir aus den Märchen kennen: „Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte.“ (Schneewittchen)

Immer wenn wir uns in der Haltung eines allwissenden Erzählers befinden (omniscient overt, omniscient non overt oder First Person omniscient) muss also automatisch das Präteritum als Erzählzeit benutzt werden.
Dabei wird eine Distanz zum Erzählten aufgebaut, der Leser nimmt die Handlung als etwas an, das in grauer Vorzeit passiert ist und die Figuren als jemanden, der schon lange tot ist. Doch nach einer Weile hat der Leser sich eingewöhnt, er „vergisst“, dass es sich um ein Ereignis in der Vergangenheit handelt und nimmt die Vergangenheitsform als „Gegenwart“ an. Der Erzähler hat seine Erzählzeit etabliert. „Es geschah im Jahre 1850, da saß eine Königin an einem Fenster …“ Schon bald darauf akzeptiert der Leser 1850 als Gegenwart; er befindet sich sozusagen zusammen mit der Figur in die Zeit zurück versetzt und alles was davor war, ist für ihn erst die Vergangenheit, alles was danach kommt, die Zukunft. „Die Königin wusste nicht, dass ihr zwei Jahre später ein Sohn geboren werden sollte, aber sie erinnerte sich an den schweren Schneesturm in ihrer Kindheit.“ Die Geburt des Sohnes liegt also in der Zukunft und der Schneesturm in der Vergangenheit; unabhängig davon, dass der Leser selber sich im Jahre 2014 befindet (und sein erstes graues Haar betrachtet.)

Was aber passiert, wenn wir den Anfang von Schneewittchen ins Präsens versetzen?

Mitten im Winter sitzt eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hat, und näht, während die Schneeflocken leise wie Federn vom Himmel herab fallen.“

Schön nicht wahr? Die ganze Szene wirkt auf einmal viel lebendiger, die Handlung unmittelbarer, der Leser hat jetzt das Gefühl „live dabei zu sein“. Und das nur durch den einfachen Handgriff, die grammatische Erzählzeit umzuändern. (Und seine Allwissenheit aufzugeben, und die Erzählhaltung eines limited omniscient Narrators einzunehmen. Für das Präsens musste der Satz „Es war einmal“ natürlich gestrichen werden. Ein kleiner aber feiner Unterschied.)

Dieses „live dabei“-Feeling kommt vom Fernsehen. Wir sind es seit beinahe nun hundert Jahren gewohnt, Geschichten unmittelbar vor unseren Augen als Bilder mitzuerleben und nicht mehr, der Stimme eines Erzählers zu lauschen, der von fernen Ereignissen in fremden Ländern und grauer Vorzeit berichtet. Das hat dazu geführt, dass das Präsens als Erzählzeit Einzug in unsere Romane genommen hat, und in manchen Genres, wie z.B. Thriller oder Jugendbuch, mittlerweile sogar überwiegt.
Vor allem im Bereich Jugendbuch ist das Präsens sehr beliebt, da die jüngeren Leser ja umso stärker von visuellen Erzählformen geprägt sind, als die etwas ältere Generation. Es gibt zwar noch immer Romane im Bereich YA, die in der Vergangenheitsform geschrieben sind, aber ein Blick auf die aktuellen Bestsellerlisten zeigt, dass die Gegenwartsform Standard bei erfolgreichen Jugendbüchern ist.

Suzanne Collins:"Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele: Band 1"

Als ich aufwache, ist die andere Seite des Bettes kalt. Ich strecke die Finger aus und suche nach Prims Wärme, finde aber nur das raue Leinen auf der Matratze. Prim muss schlecht geträumt haben und zu Mutter geklettert sein. Natürlich. Heute ist der Tag der Ernte.“
 
Wenn Deiner Einer findet, dass das irgendwie komisch klingt, dann nur, weil es eine Gewöhnungssache ist. Wer jedoch viel im Präsens gelesen hat, dem kommt die Vergangenheitsform komisch vor. So gibt es viele Leser, die ein Buch kategorisch wieder weg legen, wenn es nicht im Präsens geschrieben ist, und umgekehrt. Das ist schade, aber man kann es nicht jedem recht machen. Ich empfehle, nicht selber in diese Falle zu tappen, sondern sich bewusst auf beide Zeitformen beim Lesen einzulassen, denn beide haben ihre Vor-und Nachteile und ihren ganz besonderen Reiz.

Das Präsenz als Erzählzeit :

Vorteile


-  Unmittelbarer, der Leser ist „Live“ dabei.
-  Liest sich eher wie ein Drehbuch (Live dabei Effekt); die Glaubwürdigkeit ist sehr hoch, da das Erzählte im Hier und Jetzt geschieht und nicht von einem (evtl. unzuverlässigen) Erzähler berichtet wird. 
-  Verben haben eine stärkere Wirkung
-  Rückblenden werden ins Perfekt oder ins Präteritum gesetzt, man umgeht daher das sperrige Plusquamperfekt mit „hatte“.
-  Der Erzähler weiß selber nicht, was als nächstes geschehen wird, die Wahrscheinlichkeit von Überraschungen erhöht sich.


Nachteile

-  liest sich eher wie ein Drehbuch. Das bedeutet, es fordert einen eher reportageartigen Stil der kaum Platz für Metaphern oder schöne Beschreibungen lässt.
-   Erhöhtes Erzähltempo, fordert schnelle Passagen.
-   Zeitraffer und Zeitsprünge sind schwerer zu konstruieren.
-   Vorausgriffe in die Zukunft nicht möglich.
-   Kann unglaubwürdig wirken, wenn die Figur z.B. kämpft und gleichzeitig beschreibt, was um sie herum geschieht.(Gefahr von Logikbrüchen)
- Große Schauplätze und komplizierte Handlungen, bei denen viel gleichzeitig passiert, können nicht dargestellt werden.
-  Fordert chronologisches Erzählen


Das Präteritum als Erzählzeit:
Vorteile
-    ist die „natürliche“ Erzählzeit
-    Allwissender Erzähler ist möglich; d.h. er ist frei in Zeit und Raum, kann beliebig auf zukünftige und vergangene Ereignisse hindeuten
-   Meinungen und Bewertungen eines allwissenden Erzählers haben Platz
-   Zeitraffer und Sprünge über große Zeitabstände (Jahre, Jahrhunderte)sind einfacher
-   Nicht- lineares Erzählen ist möglich
-   Platz für poesievolle Beschreibungen, Metaphern und literarischere Sprache.
-  Rahmenhandlungen möglich

Nachteile
-   Schafft eine Distanz zum Erzählten (die aber irgendwann „vergessen“ wird)
-    Wirkt unglaubwürdiger, da durch den Filter der Erinnerung erzählt
-   Rückblenden müssen ins Plusquamperfekt versetzt werden, was zu umständlichen „hatte“ Konstruktionen führt. (Wie man das umgeht, erkläre ich beim nächsten Mal.)
-   Grammatikalisch kann es zu Verwirrungen führen, wenn man mit mehreren Zeitebenen arbeitet und die Vergangenheit von der Vorvergangenheit von der Vor-Vorvergangenheit trennen muss.

Wenn man sich einmal für eine Erzählzeit entschieden hat, muss 
man sie das ganze Manuskript hindurch beibehalten und kann nicht 
einfach so wechseln. (Eine Ausnahme bilden Rahmen- und 
Schachtelerzählungen, bei denen zwischen mehreren Erzählebenen 
hin und her gesprungen werden kann.)

Beide Erzählzeiten haben grammatikalisch und logisch ihre Tücken 
beim Schreiben. 

Und diese Tücken schauen wir uns beim nächsten Mal an, wenn es 
wieder heißt: 

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