Sonntag, 27. Oktober 2013

Sonderformen der Erzählhaltung: Die Collage




Bildquelle: nancystandlee.blogspot.com

Eigentlich wollte ich ja nicht mehr über Erzählhaltungen sprechen, aber einen kleinen Nachschlag habe ich noch, in meiner Kurzreihe über
Sonderformen in der Erzählhaltung: Teil I Collagen


Wenn man also einmal eine Erzählhaltung für seine Geschichte gewählt und den Erzähler festgelegt hat, dann sollte man diesen die ganze Geschichte durch beibehalten? Ein Wechsel ist also nie und unter keinen Umständen möglich?
Doch, denn es gibt ein paar Sonderformen.

Zum Beispiel die Collage, die komplett ohne Erzähler auskommt.

Ja, genau, Deiner Einer hat richtig gehört.
Eine Geschichte ohne Erzähler.
Wie geht das?
Eine Collage besteht aus einer unkommentierten Aneinanderreihung von Schriftstücken, wie z.B. Tagebucheinträgen, Briefen oder Zeitungsberichten. Jeder Brief, jeder einzelne Tagebucheintrag an sich hat natürlich einen Erzähler (nämlich der Verfasser des Briefes/ Tagebuchs). Wenn sich aber nun mehrere Briefeschreiber miteinander abwechseln, ein Zeitungsbericht folgt und daraufhin wieder ein Interview oder ein Ausschnitt aus einem privaten Notizbuch, so hat man es mit einer Collage zu tun. Die einzelnen Abschnitte stammen von verschiedenen Verfassern, die sich untereinander nicht einmal kennen müssen. Jeder Textteil hat eine eigene Handlung und die Zusammenhänge ergeben sich erst nach und nach, genau wie bei einer Bildcollage, bei der die einzelnen Bestandteile alle für sich ein Bild sind, aber man muss einen Schritt zurück treten um zu erkennen, dass diese zusammengenommen ein ganz anderes Bild ergeben.
Wie bei dem Bild der Frau da oben.


Berühmtestes Beispiel für ein Buch in dieser Art ist Bram Stokers „Dracula“, das ausschließlich aus Tagebucheinträgen Jonathan Harkers, Briefen von Mina, Lucy, Jonathan u.a., Telegrammen, Logbüchern eines Schiffes, Zeitungsberichten, sowie phonographischer Mitschriften Dr Sewards besteht. Die werden kommentarlos – wenn auch chronologisch - aneinander gereiht und die Figuren kennen sich untereinander und begegnen einander. Dennoch gibt es keinen übergeordneten Erzähler, der in diese Briefesammlung einführt mit den Worten: “Ich habe diese Briefe und Dokumente in einer verschlossenen Kiste auf meinem Dachboden gefunden“ o.ä. wie man es vielleicht erwarten würde. Nein, der Leser wird mit dieser Aneinanderreihung ganz ohne Einführung konfrontiert. Erst in einem Schlusswort erfährt der Leser, dass Jonathan Harker diese „Loseblattsammlung“ zusammengetragen hat, damit sein Sohn eines Tages die Wahrheit erfahre. Doch Jonathan kommentiert und wertet die einzelnen Dokumente nicht, deshalben ist er ergo auch kein „Erzähler“.
Nicht einmal ein versteckter.


Dracula“ ist eine sehr raffinierte Erweiterung des Briefromanes, welcher zu der Zeit als es geschrieben wurde recht populär war. Diese Form des Erzählens mutet uns heutzutage verstaubt und umständlich an. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass zu jener Zeit das Briefeschreiben gang und gäbe war und dass es häufig die einzige Möglichkeit war, um vom Leben entfernter Verwandter zu erfahren. Die Menschen damals waren es auch gewohnt, Briefe als einzige Quelle ihrer Söhne von der Kriegsfront zu lesen, sowie Berichte von Reisenden in ferne exotische Länder in den Zeitungen.
Leser waren an diese Textarten also gewöhnt und Bram Stoker wusste diese Form hervorragend zu nutzen um ein Gefühl von Authentizität zu erzeugen, das entscheident war für den Gruselfaktor seines Romanes. Heutzutage würde man das genauso machen, denn spätestens seit dem authentisch gestalteten Horrorfilm „Blair Witch Project“ sind verwackelte Handkameras und „Dokumentary- Stile“ aus der Fernsehwelt nicht mehr wegzudenken.


So verstaubt ist das alles also gar nicht und auch moderne Autoren wissen diese Textform der Collage klug zu nutzen. 
So z.B. Das Haus / House of Leaves von Mark Z. Danielewski.

„Das Haus“ ist eine geniale Collage aus Versatzstücken verschiedener Texte, von Tagebüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen, Essays, Briefen, Fotos, Videomitschnitten, Telefonaten. Sogar Videos gehören hier zur Handlung, der Film „Der Navidson Record“ ist sogar der Kern der Geschichte. 
Na gut, den Film gibt es nicht wirklich. Fallt nicht darauf rein. Und begeht NIEMALS den Fehler im Internet danach zu suchen.
Aber theoretisch ist der „Fünfeinhalb-Minuten-Flur“ als dokumentarisches Videomaterial existent und deswegen auch so erschreckend.


In heutigen Medien wie dem Ebook, könnte man diese Ideen sogar noch weiterspinnen, denn man ist ja technisch nicht mehr an reinen geschriebenen Text gebunden und ein Buch wie „The House of Leaves“ hätte in digitaler Form mehr verdient, als ein bloßes PDF als Abdruck der Printausgabe. Und die hat es ja schon in sich, mit ihrer verrückten Typographie und den ungewöhnlich gestalteten Seiten, die also auch optisch wie eine Collage daher kommen.




Ausschnitt aus "Das Haus" von Mark Z. Danielewski

Wer weiß, vielleicht werden die Ebooks der Zukunft ja wirklich abspielbare Videos, Tonmaterial, Animationen und interaktive Elemente enthalten?
Das könnte eine Renaissance der Erzählcollagen bedeuten – ganz ohne Erzähler.
Das wäre ja vielleicht spannendes Neuland für Deiner Einer? Auf jeden Fall eine kreative Herausforderung für jeden Autoren.


Beim nächsten Mal schauen wir uns noch eine andere Sonderform an : Teil II Die Rahmenhandlung.

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