Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 4 |
Nun könnte man also in einem Text alle „Er“ durch ein „Ich“
ersetzen und schon hat man einen „Ich-Erzähler“?
Ja, könnte man.
Aber der Ich-Erzähler hat ein paar theoretische Besonderheiten
und es macht Sinn, sich diese einmal anzusehen, bevor man sich für diese Form
entscheidet.
Diese Erzählhaltung folgt erst einmal den Regeln des
„Third Person subjektiv“, alles ist also aus der subjektiven Sicht der Figur beschrieben,
es gibt keinerlei Außenansicht oder Einblicke in die Gedanken anderer Figuren;
alles muss durch die Sichtweise der Figur gefärbt beschrieben sein. Er ist an eine
Figur gebunden, aber mehrere Ich-Erzähler können sich kapitelweise abwechseln.
Entstanden ist diese Form aus dem Briefroman.Ein Beispiel:
"Erster Brief
An Mrs Saville, England
St.Petersburg, 11.Dez. 17—
Es mag dich freuen, zu hören, dass die ersten Schritte jenes
Unterfangens, welches Du mit so unheilvollen Vorgefühlen betrachtet, sich
bisher unter einem günstigen Sterne vollzogen haben. Ich bin hierorts am
gestrigen Tage angelangt und erachte es für meine vordringlichste Pflicht,
Dich, teuerste Schwester, meines Wohlergehens zu versichern, sowie meiner
wachsenden Zuversicht in den schließlichen Erfolg meines Vorhabens.
Ich befinde mich hier auf einem viel nördlicher gelegenen
Breitengrade denn London, und sobald ich durch die Straßen von Petersburg
wandle, umfächelt meine Wange eine kalte, von Norden kommende Brise, welche die
Nerven erfrischt und mich mit Entzücken erfüllt.
Kannst du dies Gefühl mir nachempfinden? […]
Was mag nicht alles zu erwarten sein, von einem Lande, darin
es nimmer Nacht wird?"
Man liest also die privaten Aufzeichnungen/ lauscht den
Gedanken eines Menschen wie ein Voyeur, kurz: es handelt sich um einen intimen Einblick in
das Leben eines Menschen, wie man ihn normalerweise nicht bekommt, was den ganz
besonderen Reiz der Tagebuchform ausmacht.
Eine Geschichte in Form von Briefen zu erzählen, bedeutet
aber auch fragmentarisches Erzählen. Der Ich- Erzähler berichtet nur, was er
selbst erlebt hat und was ihm wichtig erscheint (er verschweigt oder beschönigt mitunter etwas), daher kann es Lücken in der Erzählung geben, so dass der Leser sich die
Handlung selbst zusammen reimen muss.
In dieser Erzählhaltung des „First Person limited“ sind Erzähler
und Figur miteinander verschmolzen.
Das bedeutet, die Figur wird zum Erzähler ihrer eigenen
Geschichte. Denn wer könnte die Geschichte von Frankensteins Monster
besser erzählen, als das Monster selbst?
Vorsicht! Eine Geschichte zu erzählen, ist eine nicht
unbedeutende Aufgabe (nicht wahr?) und man sollte sich als Autor fragen: Ist
meine Figur überhaupt geeignet, seine eigene Geschichte zu erzählen? Nicht jede
Figur hat die Fähigkeiten und den Charme eines Storytellers!
Desweiteren muss der Autor sich und all seine mühsam
erlernten Fähigkeiten zurückhalten und jemand anderen das Steuer überlassen.
Jemanden, der vielleicht weniger gebildet, weniger wortgewandt, rüpelhaft oder
sogar geistig zurückgeblieben ist. (Das Monster kann ja nicht einmal sprechen!)
Wenn man so eine Figur ans Steuer lässt, kann das so
klingen:
Daniel Keyes: “Blumen für Algernon" "Fortschritsberich 1
3 Mertz
Dr Strauss sagt fon nun an sol ich aufschreiben was ich
denke und woran ich mir erinere und ales was ich erlebe. Wiso weis ich nich
aber er sagt es ist wischtisch da mit sie sen ob sie mich nehmen könen. Ich
hofe sie nehmen mich weil Miss Kinnian sagt fileich könen sie mich Intelgent
machen."
Und hier in diesem Beispiel merken wir es schon: „Voice“ ist
alles beim Ich-Erzähler. Der Autor sollte ganz besondere Sorgfalt darauf verwenden,
seiner Figur eine eigene Stimme zu verleihen. Der Autor, der Jahre damit
verbracht hat, seine eigene Stimme zu finden, seinen Stil zu verbessern und an
seinem Ausdruck zu feilen, muss nun hinter einer Figur zurücktreten, alles was
er kann beiseite lassen und jemand anderen zu einem eigenen Stil verhelfen.
Keine leichte Aufgabe.
Erst recht nicht, wenn man mehrere Ich-Erzähler einsetzen
will, die kapitelweise abwechselnd ihre Sicht der Dinge erzählen sollen, denn
dann muss Deiner Einer dafür sorgen, dass alle diese Figuren eine deutliche
eigene Sprache haben. Doch wenn dies gelingt, kommen mitunter schöne Bücher dabei
heraus. (Beispiel: Jodie Picoult Zerbrechlich: Roman
)
Und noch ein paar Sachen gibt es zu bedenken:
Der Ich-Erzähler, der seine eigene Geschichte erzählt, muss
zwangsläufig das Ende der Geschichte überleben, denn sonst könnte er nicht von
ihr erzählen, richtig? Ein Thriller, bei dem die Spannung darauf beruht, ob die
Hauptfigur überleben wird oder nicht, ist also schwer in der Form eines
Ich-Erzählers aufzubauen, denn man nimmt damit automatisch vorweg, dass die
Hauptfigur überlebt. Oder? (Es sei denn, man benutzt einen Trick und deckt am
Ende auf, die Hauptfigur ist ein Geist. Auch das wurde selbstverständlich
schon öfter gemacht.)
Dennoch gibt es viele Thriller in der Ich- Form. Wieso?
Geschichten schreibt man normalerweise im Präteritum.
Ein Ich-Erzähler, der seine Geschichte im Präteritum
erzählt, erzählt diese zwangsläufig als Rückblick, hat also bereits alle
Erlebnisse hinter sich und weiß um den Ausgang.
Um das zu vermeiden kann man seine Geschichte ins Präsenz
versetzen. Dies hat nicht nur den Vorteil, dass der Ausgang für die Figur
ungewiss ist, es vermittelt dem Leser auch das Gefühl unmittelbar „live“ dabei
zu sein.
Hier ein Beispiel für den Einsatz von „Voice“ und Präsenz:
Josh Bazell: „Schneller als der Tod: Roman"
"Ich bin also auf dem Weg zur Arbeit und bleibe stehen, um
einer Taube zuzuschauen, die im Schnee mit einer Ratte kämpft, und irgend so
ein Dödel will mich ausrauben! Mit Knarre natürlich. Er kommt von hinten und
drückt sie mir in die Schädelbasis. Sie ist kalt und fühlt sich sogar gut an,
nach Akkupressur. „Ganz ruhig, Doc“, sagt er.
Womit das wenigstens erklärt ist. Nicht mal früh um fünf bin
ich der Typ, den man überfällt. Ich sehe aus wie das Osterinsel-Standbild eines
Hafenarbeiters. Aber der Dödel sieht die blaue OP-Hose unter meinem Mantel und
die atmungsaktiven grünen Plastikclogs und vermutet Drogen und Geld bei mir.
Und denkt wohl, ich habe einen Eid geschworen, ihm nicht die dödelige Hucke
dafür vollzuhauen, dass er mich ausrauben will."
Das Erzählen im Präsenz hat aber auch einen Nachteil: In
manchen Situationen fragt man sich, wie es sein kann, dass der Erzähler
überhaupt noch die Zeit hat, um mit kühlem Kopf weiter zu berichten. Besonders
in Action-Szenen kann es schwer sein für die Figur, den Überblick zu bewahren
und weiterhin dem Leser zu beschreiben, was geschieht. Ist dieses ungeschickt
gemacht, drängt sich dem Leser gar die Frage auf, wem und warum der Erzähler da
eigentlich gerade live berichtet. Die fiktive Illusion zerreißt.
Belässt man dagegen die Sache im Präteritum hat man es mit
einem Paradoxon zu tun: Wir tun so, als wüsste die Figur selber auch
noch nicht, was ihr geschehen wird, trotz der Vergangenheitsform, in der sie
erzählt.
Der Leser nimmt dies dem Autor aber zumeist ab.
Der Leser nimmt dies dem Autor aber zumeist ab.
Damit dieser unausgesprochene Vertrag und die Illusion, die
er erzeugt, nicht gebrochen wird, sollte der Ich-Erzähler niemals den Leser
direkt ansprechen. „Hör mir zu, ich
erzähle dir eine Geschichte …“. Tut er dies, so wandelt er sich zum "First
Person omniscient".
Und über den sprechen wir beim nächsten Mal.
Und über den sprechen wir beim nächsten Mal.
Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 4 |
Zusammenfassung:
„First Person limited“
-
Einblick in Gedanken oder Gefühle einer Figur, die von
sich als „ich“ spricht.
-
keine Außenansicht auf die Figur.
-
Ist nicht frei in Zeit und Raum, kann nur über
Ereignisse berichten, die die Ich- Figur erlebt, ist an eine Figur gebunden.
Aber mehrere Ich-Erzähler können sich kapitelweise abwechseln.
-
Erzähler und Figur miteinander verschmolzen
-
Ich – Figur kann nicht am Ende der Geschichte sterben.
-
Ausschließlich „reliable“ Erzähler
-
Fordert szenisches Erzählen; vor allem, wenn im Präsenz
geschrieben wird.
- „Voice“ sehr wichtig; wechselnden Ich-Erzählern mit
eigener Voice.
- spielt sehr in
der Gedanken/Innenwelt der Figur, stream of consciousness, berichtet nur, was
ihm wichtig erscheint, fragmentarisches Erzählen.
- Vorteil: „Live
dabei“ – Feeling, Voyeuristischer Einblick in intime Gedanken einer Figur,
Briefroman/ Tagebuchform
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen