Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil III |
Wenn in der Erzählhaltung der Dritten Person alles aus Sicht der Figur erzählt wird, sollte dann nicht auch alles eine deutlich subjektive Färbung haben? Heißt „aus der Sicht der Figur“ nicht, dass keine Objektivität mehr möglich ist?
Recht hat Deiner Einer!
Ich nenne diese Erzählhaltung „Third Person subjective“.
Zwar ist sie genau genommen keine eigene Erzählhaltung, sondern mehr eine
Ausrichtung in Erzählweise und Stil, aber dennoch nimmt das Literaturkaninchen
hier in seiner Ringtheorie der Erzählhaltungen den Standpunkt ein, es handele
sich um eine eigene Erzählhaltung.
Die Regeln für den Third Person Subjective sind genau
dieselben wie die für den Third Person objective, so gibt es keine Außenansicht
auf die Figur, alles ist aus der Sicht der Figur in Form eines „er“ oder „sie“
geschrieben, der Erzähler hat Einblick in die Gedanken der Perspektivfigur,
aber er darf nicht kommentieren oder werten.
Stattdessen kommentiert und bewertet die Figur selbst.
Beispiel:
„Ich ernenne euch hiermit offiziell zum Strafpräfekten“,
fuhr der Clubmeister fort und schlug den beiden mit dem Silberstab auf die
Schultern, „und ich ermahne euch, eine gute Erziehungsleistung im wahren Geiste
Stjärnsbergs zu vollbringen. Wenn ich das Karo verlassen habe, darf es niemand
mehr betreten, und der Kampf dauert an, bis eine Seite auf den Knien
hinauskriecht. Der Kampf möge beginnen!“
Wieder brach der Jubel los, und der Clubmeister stieg von
der Platte und stellte sich in die erste Reihe der Abiturienten und
Ratsmitglieder. Eriks Gegner hoben die Hände vors Gesicht und kamen auf ihn zu.
Erik behielt die Hände in den Taschen und betrachtete seine Widersacher. Der
größere und schmalere, ohne Jackett, hatte eine lange Nase, deren Bein direkt
unter der Haut zu liegen schien. Der Typ im Jackett war um die Taille ein wenig
zu dick, um sich rasch bewegen zu können. Aber sie hielten die Hände wie auf
Boxerfotos aus den Dreißigerjahren, die rechte Faust vor den Mund, die linke in
Mundhöhe gerade ausgestreckt. Es sah bescheuert aus. Und kämpfen konnten sie
einwandfrei nicht. Also musste es möglich sein, ihnen Angst zu machen und zu
gewinnen. Ihre Angst lag garantiert dicht unter der Oberfläche, man musste nur
ein wenig daran herumkratzen. Natürlich machte es sie unsicher, dass Erik sich
nicht bewegte, sondern einfach mit den Händen in den Hosentaschen dastand. Sie
kamen noch ein wenig näher, waren aber noch nicht nahe genug für einen
Schlagabtausch. Erik wartete, bis sie fast in Reichweite waren, dann begann er,
seinen Plan in die Tat umzusetzen.
(S. 145/146)
Der Roman „Evil“ ist durchgehend aus der Sicht einer
einzigen Figur geschrieben, des Protagonisten Erik, eines 14-jährigen Jungen,
der sich auf einem Internat für Schwererziehbare durchsetzen muss, wo Prügeleien an der
Tagesordnung sind. Erik war früher ein Bandenmitglied; er hat
viele Schlägereien hinter sich und weiß, wie man kämpft.
Das hat große Auswirkungen darauf, wie die Szene beschrieben
ist.
Wir befinden uns in Eriks Kopf, alles was beschrieben wird,
ist etwas, das Erik wahrnimmt oder denkt. Die dünne Nase des Gegners, die
leicht zu brechen sein wird. Die etwas zu dicke Taille, die den Gegner
unbeweglich macht. Alles Details, die Erik auffallen.
Diese Art der Beschreibung lässt uns nicht nur das Geschehen
unmittelbar in Eriks Kopf miterleben, so als wären wir dabei; es
charakterisiert auch noch den Protagonisten Erik eindrucksvoll, der in solch
einer unangenehmen Situation wie der da oben einen kühlen Kopf bewahrt (cool
die Hände in den Taschen), seine Gegner abschätzt und einen Plan entwickelt,
wie er sie fertig machen kann – obwohl sie zu zweit sind und älter und stärker als er.
Nun gut, Erik bewahrt also einen kühlen Kopf.
Was passiert aber, wenn ich eine Figur als Hauptfigur habe,
die keinen kühlen Kopf bewahrt, die in Panik gerät, benommen ist oder eine
verzerrte Wahrnehmung hat (weil sie z.B. unter Drogen steht, verletzt ist, dem
Wahnsinn verfallen)?
Sollten sich die Beschreibungen dann nicht diesem Umstand
anpassen?
Ja, durchaus.
Ein Beispiel:
Sonnenschein sickerte durch die Ritzen der Fensterläden, als
sie erwachte. Sie setzte sich langsam auf, lehnte sich auf die Ellbogen
gestützt an den Kopfteil des Betts und wartete darauf, dass ihr Blick klar
werden und das Summen in ihren Ohren aufhören würde. Sie schluckte mehrmals, um
ihren Mund anzufeuchten, der so ausgetrocknet war, als hätte man einen
Wattebausch in ihn hineingestopft. Dann schwang sie die Beine aus dem Bett, um
aufzustehen.
Das Zimmer drehte sich; sie schwankte so heftig, dass sie zu
stürzen fürchtete. Ihr Kopf erschien ihr ungeheuer schwer, ein Riesengewicht,
das ihr gebrechlicher Körper kaum tragen konnte. Nieder mit Jane Whittacker,
dachte sie, und ließ sich wieder auf das Bett zurückfallen.
Beide Hände auf die Bettkante gestützt, saß sie da und sah
zu den Spiegeln hinüber. „Jane Whittacker“, sagte sie feierlich zu ihren
schwankenden Spiegelbildern. „Wer zum Teufel bist du?“
Die Spiegelbilder schwankten noch stärker und entzogen sich
ihrem Blick, als eine Welle von Schwindel und Übelkeit sie wieder in die Kissen
zurückwarf. „Immer langsam voran“, ermahnte sie sich, wohl wissend, dass sie
sonst überhaupt nicht auf die Beine kommen würde.
(S.117)
Jane Whittacker hat ihr Gedächtnis verloren. Sie weiß nichts
mehr außer den Namen, den man ihr genannt hat.
Janes Wahrnehmung ist gestört, sie ist benommen und sieht
ihr Umfeld wie durch eine schwankende Kamera. Denn man hat ihr Medikamente
verabreicht.
Beachte, dass, wie es sich für den Third Person Narrator
gehört, alles aus Janes Sicht geschrieben ist. Der Leser bekommt keinen Blick
von außen auf die Figur Jane. Desweiteren beziehen sich die Beschreibungen
hauptsächlich darauf, wie Jane sich fühlt. Im Gegensatz zu Erik analysiert sie
nicht ihre Umgebung und Situation, sondern spürt ihren trockenen Mund, hört
Summen in ihren Ohren, sieht Sonnenlicht sickern, empfindet ihren Körper als
bleischwer, Übelkeit steigt in ihr auf …
Vergleiche diese Szene mit der von Phillip Pullman in „Der Goldene Kompass“. Beide sind in der Erzählhaltung der Dritten Person
beschrieben.
Was ist anders?
Noch ein Beispiel:
Zwar war Berha Young schon dreißig, aber noch immer gab es für sie Augenblicke wie eben, da sie es danach verlangte zu rennen, statt zu gehen, die Bordsteinkante auf und ab zu tänzeln, einen Reifen zu treiben, etwas in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen oder stillzustehen und zu lachen – über nichts – einfach so über nichts zu lachen.
Was kann man denn auch tun, wenn man dreißig ist, in seine
eigene Straße einbiegt und plötzlich von einem Gefühl der Seligkeit überwältigt
wird – reiner Seligkeit! -, als hätte man mit einemmal ein strahlendes Stück
dieser Spätnachmittagssonne verschluckt, und nun brannte es einem in der Brust,
und winzige Funkenregen stoben durch den ganzen Körper, in jeden Finger und
jede Zehe? …
Ach, gibt es denn keine Möglichkeit, das auszudrücken, ohne
„öffentliches Ärgernis“ zu erregen? Wie idiotisch doch die ganze zivilisierte
Welt ist! Wozu hat man denn einen Körper, wenn man ihn wie eine seltene, ach so
seltene Geige in einen Kasten schließen muß?
„Nein, das mit der Geige trifft nicht ganz, was ich meine“,
dachte sie, als sie die Stufen hinauflief, in ihrer Tasche nach dem Schlüssel
kramte – sie hatte ihn vergessen, wie üblich – und dann mit dem
Briefkastendeckel klapperte. „Das ist`s nicht, was ich meine, weil –Danke,
Mary“ – und sie ging in die Diele. “Ist die Kinderfrau wieder zurück?“
„Ja, Ma`m“
„Und ist das Obst angekommen?“
„Ja, Ma`m, `s ist alles da.“
„Bringen Sie das Obst bitte ins Esszimmer, ja? Ich möchte es
arrangieren, ehe ich hinaufgehe.“
Im Esszimmer war es dämmrig und ziemlich kühl. Dennoch warf
Berha den Mantel ab; sie konnte den beengenden Druck keinen Augenblick länger
ertragen, und die kalte Luft fiel ihr auf die Arme.
Doch in ihrer Brust spürte sie noch immer diese strahlende
Glut – diese winzigen Funkenregen, die davon ausstoben. Es war beinahe
unerträglich. Sie wagte kaum zu atmen, aus Angst, die Flammenglut
höherzufächeln, und doch holte sie ganz, ganz tief Luft.[...]
Auf einem Tablett brachte Mary die Früchte herein, dazu eine
Glasschüssel und eine blaue Schale, sehr hübsch, die ganz seltsam schimmerte,
als wäre sie in Milch getaucht worden.
„Soll ich das Licht anmachen, Ma`m?“
„Nein, danke. Ich kann genug sehen.“
Da waren Mandarinen und Äpfel mit erdbeeroten Flecken.
Gelbe, seidenweiche Birnen, helle, mit einem silbernen Hauch überzogene
Weinbeeren und eine üppige purpurrote Traube.
Letztere hatte sie gekauft, weil sie so gut zu dem neuen
Teppich im Esszimmer passte. Ja, das klang wohl ziemlich ausgefallen und
lächerlich, aber sie hatte sie wirklich deswegen gekauft. Sie hatte in dem
Geschäft gedacht: “Ich muß purpurrote mitnehmen, damit sich die Farbe des
Teppichs auf dem Tisch wiederfindet.“ Und es war ihr dabei ganz vernünftig
vorgekommen.
Als sie damit fertig war und aus diesen glänzenden runden
Formen zwei Pyramiden gebaut hatte, trat sie vom Tisch zurück, um die Wirkung
zu prüfen – und die war wirklich recht seltsam. Denn der dunkle Tisch schien
mit dem Dämmerlicht zu verschmelzen, und die Glasschüssel und die blaue Schale
schwebten gleichsam in der Luft. Das war besonders in ihrer augenblicklichen
Stimmung so unglaublich schön … Sie brach in Lachen aus.
„Nein, nein, ich werde langsam hysterisch.“ Und sie griff
Tasche und Mantel und lief hinauf ins Kinderzimmer.
Dieses Beispiel kombiniert sehr schön, was ich anhand der
anderen Beispiele zeigen wollte:
Bertha Young sieht Sachen, die nur eine Bertha Young sehen
würde (welches Obst farblich zu ihrem Teppich passt); gleichzeitig reflektiert
sie darüber, was das über sie selbst aussagt („Das klang wohl ziemlich
ausgefallen und lächerlich“) und sie sieht die Dinge nicht nur, sondern gibt
ihnen eine Bewertung („ … eine blaue Schale, sehr hübsch …“.
Kurz: Wir erleben hier eine sehr subjektive Sicht auf die
Welt.
Die Erzählhaltung des Third Person subjective eignet sich
daher vor allem für Geschichten, bei denen innerpsychologische Vorgänge im
Vordergrund stehen, wie z.B. Familiendramen, Psychothriller, Coming – of –age
Romane, Liebesgeschichten und Horror.
In seiner extremsten Ausprägung taucht der Leser dann so
sehr in die Gedankenwelt der Figur ein, dass er nur noch einem Gedankenfluß
lauscht und kaum noch Fakten über die Außenwelt erhält. So einen Absatz nennt
man „Stream of consciousness“. James Joyce und Virginia Woolf sind die
Vorreiter dieser Technik. Sie trieben es so weit, ganze Romane als einen
einzigen langen Gedankenfluß zu schreiben (Ullysses; Mrs Dalloway), was der
Grund ist, warum diese Romane als schwer lesbar gelten. Und warum sie
gleichzeitig so genial sind.
Ein Stream of consciousness muss aber nicht so lang sein, er
kann über wenige Absätze oder Zeilen reichen und dann zu einer objektiveren
Beschreibung zurückführen.
Häufig findet man diese bei einem Ich-Erzähler und in der
Tat ist der Third Person subjectiv dem Ich-Erzähler sehr nahe (so nahe, dass
man problemlos jedes „er“ oder „sie“ in ein „ich“ abändern kann. Auch hier ein
guter Trick zum Überprüfen, ob man keine Fehler in der Perspektive gemacht hat.)
Und ihr habt es schon gemerkt: Der Third Person subjective
bietet ein hohes Maß der Identifikation des Lesers mit der Figur.
Zusammenfassung: „Third Person subjective“
-
Regeln wie beim Third Person objective
-
Alles wird durch die subjektive Färbung der Sicht der
Figur erzählt
-
Beschränkt sich häufig auf eine einzige Figur
(Protagonisten)
-
Wenn aus der
Sicht mehrerer Figuren, so sollte jede Figur eine eigene, einzigartige
Sichtweise auf die Dinge haben (eine eigene „Voice“), die die Figuren klar von
einander unterscheidbar macht
-
spielt viel Gedanken/Innenwelt
der Figur, stream of consciousness, sehr dicht am „Ich-Erzähler“
-
Vorteil: Sehr
hohe Identifikation des Lesers mit der Figur
-
Geeignet für
Familiendramen, Psychothriller, Coming – of –age, Liebesgeschichten, Horror –
alles mit Fokus auf innerpsychologische Vorgänge
Hausaufgabe:
Nehme den Anfang von „Der Goldene Kompass“ und schreibe die Geschichte von
Lyra und ihrem Dämon von Third Person objective in einen Third Person
subjective um.
Was denkt und fühlt Lyra, wenn sie den Speisesaal betritt?
Angst, Vorfreude, Abenteuerlust? Wie beschreibt Lyra die Porträts der
Direktoren an den Wänden? Vielleicht als streng dreinblickende, ältere Herren.
Oder als aufgeblasene Säcke mit steifen Halskrausen.
Lass deiner Phantasie freien Lauf, erfinde die Figur der
Lyra ruhig neu, oder schicke jemand anderen in den gleichen Speisesaal. Wichtig
dabei ist nur, dass du übst, allem eine subjektive Färbung zu verleihen.
Nächtes Mal beschäftigen wir uns mit dem Ich-Erzähler, hier.
Nächtes Mal beschäftigen wir uns mit dem Ich-Erzähler, hier.
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