Mittwoch, 15. Mai 2013

Teil 3: Third Person subjective

Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil III



Wenn in der Erzählhaltung der Dritten Person alles aus Sicht der Figur erzählt wird, sollte dann nicht auch alles eine deutlich subjektive Färbung haben? Heißt „aus der Sicht der Figur“ nicht, dass keine Objektivität mehr möglich ist?
Recht hat Deiner Einer!

Ich nenne diese Erzählhaltung „Third Person subjective“. Zwar ist sie genau genommen keine eigene Erzählhaltung, sondern mehr eine Ausrichtung in Erzählweise und Stil, aber dennoch nimmt das Literaturkaninchen hier in seiner Ringtheorie der Erzählhaltungen den Standpunkt ein, es handele sich um eine eigene Erzählhaltung.
Die Regeln für den Third Person Subjective sind genau dieselben wie die für den Third Person objective, so gibt es keine Außenansicht auf die Figur, alles ist aus der Sicht der Figur in Form eines „er“ oder „sie“ geschrieben, der Erzähler hat Einblick in die Gedanken der Perspektivfigur, aber er darf nicht kommentieren oder werten.
Stattdessen kommentiert und bewertet die Figur selbst.

Beispiel:
 „Ich ernenne euch hiermit offiziell zum Strafpräfekten“, fuhr der Clubmeister fort und schlug den beiden mit dem Silberstab auf die Schultern, „und ich ermahne euch, eine gute Erziehungsleistung im wahren Geiste Stjärnsbergs zu vollbringen. Wenn ich das Karo verlassen habe, darf es niemand mehr betreten, und der Kampf dauert an, bis eine Seite auf den Knien hinauskriecht. Der Kampf möge beginnen!“
Wieder brach der Jubel los, und der Clubmeister stieg von der Platte und stellte sich in die erste Reihe der Abiturienten und Ratsmitglieder. Eriks Gegner hoben die Hände vors Gesicht und kamen auf ihn zu. Erik behielt die Hände in den Taschen und betrachtete seine Widersacher. Der größere und schmalere, ohne Jackett, hatte eine lange Nase, deren Bein direkt unter der Haut zu liegen schien. Der Typ im Jackett war um die Taille ein wenig zu dick, um sich rasch bewegen zu können. Aber sie hielten die Hände wie auf Boxerfotos aus den Dreißigerjahren, die rechte Faust vor den Mund, die linke in Mundhöhe gerade ausgestreckt. Es sah bescheuert aus. Und kämpfen konnten sie einwandfrei nicht. Also musste es möglich sein, ihnen Angst zu machen und zu gewinnen. Ihre Angst lag garantiert dicht unter der Oberfläche, man musste nur ein wenig daran herumkratzen. Natürlich machte es sie unsicher, dass Erik sich nicht bewegte, sondern einfach mit den Händen in den Hosentaschen dastand. Sie kamen noch ein wenig näher, waren aber noch nicht nahe genug für einen Schlagabtausch. Erik wartete, bis sie fast in Reichweite waren, dann begann er, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
(S. 145/146)

Der Roman „Evil“ ist durchgehend aus der Sicht einer einzigen Figur geschrieben, des Protagonisten Erik, eines 14-jährigen Jungen, der sich auf einem Internat für Schwererziehbare durchsetzen muss, wo Prügeleien an der Tagesordnung sind. Erik war früher ein Bandenmitglied; er hat viele Schlägereien hinter sich und weiß, wie man kämpft.
Das hat große Auswirkungen darauf, wie die Szene beschrieben ist.
Wir befinden uns in Eriks Kopf, alles was beschrieben wird, ist etwas, das Erik wahrnimmt oder denkt. Die dünne Nase des Gegners, die leicht zu brechen sein wird. Die etwas zu dicke Taille, die den Gegner unbeweglich macht. Alles Details, die Erik auffallen.
Diese Art der Beschreibung lässt uns nicht nur das Geschehen unmittelbar in Eriks Kopf miterleben, so als wären wir dabei; es charakterisiert auch noch den Protagonisten Erik eindrucksvoll, der in solch einer unangenehmen Situation wie der da oben einen kühlen Kopf bewahrt (cool die Hände in den Taschen), seine Gegner abschätzt und einen Plan entwickelt, wie er sie fertig machen kann – obwohl sie zu zweit sind und älter und stärker als er.

Nun gut, Erik bewahrt also einen kühlen Kopf.
Was passiert aber, wenn ich eine Figur als Hauptfigur habe, die keinen kühlen Kopf bewahrt, die in Panik gerät, benommen ist oder eine verzerrte Wahrnehmung hat (weil sie z.B. unter Drogen steht, verletzt ist, dem Wahnsinn verfallen)?
Sollten sich die Beschreibungen dann nicht diesem Umstand anpassen?
Ja, durchaus.

Ein Beispiel:
Sonnenschein sickerte durch die Ritzen der Fensterläden, als sie erwachte. Sie setzte sich langsam auf, lehnte sich auf die Ellbogen gestützt an den Kopfteil des Betts und wartete darauf, dass ihr Blick klar werden und das Summen in ihren Ohren aufhören würde. Sie schluckte mehrmals, um ihren Mund anzufeuchten, der so ausgetrocknet war, als hätte man einen Wattebausch in ihn hineingestopft. Dann schwang sie die Beine aus dem Bett, um aufzustehen.
Das Zimmer drehte sich; sie schwankte so heftig, dass sie zu stürzen fürchtete. Ihr Kopf erschien ihr ungeheuer schwer, ein Riesengewicht, das ihr gebrechlicher Körper kaum tragen konnte. Nieder mit Jane Whittacker, dachte sie, und ließ sich wieder auf das Bett zurückfallen.
Beide Hände auf die Bettkante gestützt, saß sie da und sah zu den Spiegeln hinüber. „Jane Whittacker“, sagte sie feierlich zu ihren schwankenden Spiegelbildern. „Wer zum Teufel bist du?“
Die Spiegelbilder schwankten noch stärker und entzogen sich ihrem Blick, als eine Welle von Schwindel und Übelkeit sie wieder in die Kissen zurückwarf. „Immer langsam voran“, ermahnte sie sich, wohl wissend, dass sie sonst überhaupt nicht auf die Beine kommen würde.
(S.117)

Jane Whittacker hat ihr Gedächtnis verloren. Sie weiß nichts mehr außer den Namen, den man ihr genannt hat.
Janes Wahrnehmung ist gestört, sie ist benommen und sieht ihr Umfeld wie durch eine schwankende Kamera. Denn man hat ihr Medikamente verabreicht.
Beachte, dass, wie es sich für den Third Person Narrator gehört, alles aus Janes Sicht geschrieben ist. Der Leser bekommt keinen Blick von außen auf die Figur Jane. Desweiteren beziehen sich die Beschreibungen hauptsächlich darauf, wie Jane sich fühlt. Im Gegensatz zu Erik analysiert sie nicht ihre Umgebung und Situation, sondern spürt ihren trockenen Mund, hört Summen in ihren Ohren, sieht Sonnenlicht sickern, empfindet ihren Körper als bleischwer, Übelkeit steigt in ihr auf …

Vergleiche diese Szene mit der von Phillip Pullman in „Der Goldene Kompass“. Beide sind in der Erzählhaltung der Dritten Person beschrieben.
Was ist anders?

Noch ein Beispiel:

Zwar war Berha Young schon dreißig, aber noch immer gab es für sie Augenblicke wie eben, da sie es danach verlangte zu rennen, statt zu gehen, die Bordsteinkante auf und ab zu tänzeln, einen Reifen zu treiben, etwas in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen oder stillzustehen und zu lachen – über nichts – einfach so über nichts zu lachen.
Was kann man denn auch tun, wenn man dreißig ist, in seine eigene Straße einbiegt und plötzlich von einem Gefühl der Seligkeit überwältigt wird – reiner Seligkeit! -, als hätte man mit einemmal ein strahlendes Stück dieser Spätnachmittagssonne verschluckt, und nun brannte es einem in der Brust, und winzige Funkenregen stoben durch den ganzen Körper, in jeden Finger und jede Zehe? …
Ach, gibt es denn keine Möglichkeit, das auszudrücken, ohne „öffentliches Ärgernis“ zu erregen? Wie idiotisch doch die ganze zivilisierte Welt ist! Wozu hat man denn einen Körper, wenn man ihn wie eine seltene, ach so seltene Geige in einen Kasten schließen muß?
„Nein, das mit der Geige trifft nicht ganz, was ich meine“, dachte sie, als sie die Stufen hinauflief, in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte – sie hatte ihn vergessen, wie üblich – und dann mit dem Briefkastendeckel klapperte. „Das ist`s nicht, was ich meine, weil –Danke, Mary“ – und sie ging in die Diele. “Ist die Kinderfrau wieder zurück?“
„Ja, Ma`m“
„Und ist das Obst angekommen?“
„Ja, Ma`m, `s ist alles da.“
„Bringen Sie das Obst bitte ins Esszimmer, ja? Ich möchte es arrangieren, ehe ich hinaufgehe.“
Im Esszimmer war es dämmrig und ziemlich kühl. Dennoch warf Berha den Mantel ab; sie konnte den beengenden Druck keinen Augenblick länger ertragen, und die kalte Luft fiel ihr auf die Arme.
Doch in ihrer Brust spürte sie noch immer diese strahlende Glut – diese winzigen Funkenregen, die davon ausstoben. Es war beinahe unerträglich. Sie wagte kaum zu atmen, aus Angst, die Flammenglut höherzufächeln, und doch holte sie ganz, ganz tief Luft.[...]
Auf einem Tablett brachte Mary die Früchte herein, dazu eine Glasschüssel und eine blaue Schale, sehr hübsch, die ganz seltsam schimmerte, als wäre sie in Milch getaucht worden.
„Soll ich das Licht anmachen, Ma`m?“
„Nein, danke. Ich kann genug sehen.“
Da waren Mandarinen und Äpfel mit erdbeeroten Flecken. Gelbe, seidenweiche Birnen, helle, mit einem silbernen Hauch überzogene Weinbeeren und eine üppige purpurrote Traube.
Letztere hatte sie gekauft, weil sie so gut zu dem neuen Teppich im Esszimmer passte. Ja, das klang wohl ziemlich ausgefallen und lächerlich, aber sie hatte sie wirklich deswegen gekauft. Sie hatte in dem Geschäft gedacht: “Ich muß purpurrote mitnehmen, damit sich die Farbe des Teppichs auf dem Tisch wiederfindet.“ Und es war ihr dabei ganz vernünftig vorgekommen.
Als sie damit fertig war und aus diesen glänzenden runden Formen zwei Pyramiden gebaut hatte, trat sie vom Tisch zurück, um die Wirkung zu prüfen – und die war wirklich recht seltsam. Denn der dunkle Tisch schien mit dem Dämmerlicht zu verschmelzen, und die Glasschüssel und die blaue Schale schwebten gleichsam in der Luft. Das war besonders in ihrer augenblicklichen Stimmung so unglaublich schön … Sie brach in Lachen aus.
„Nein, nein, ich werde langsam hysterisch.“ Und sie griff Tasche und Mantel und lief hinauf ins Kinderzimmer.

Dieses Beispiel kombiniert sehr schön, was ich anhand der anderen Beispiele zeigen wollte:
Bertha Young sieht Sachen, die nur eine Bertha Young sehen würde (welches Obst farblich zu ihrem Teppich passt); gleichzeitig reflektiert sie darüber, was das über sie selbst aussagt („Das klang wohl ziemlich ausgefallen und lächerlich“) und sie sieht die Dinge nicht nur, sondern gibt ihnen eine Bewertung („ … eine blaue Schale, sehr hübsch …“.
Kurz: Wir erleben hier eine sehr subjektive Sicht auf die Welt.


Die Erzählhaltung des Third Person subjective eignet sich daher vor allem für Geschichten, bei denen innerpsychologische Vorgänge im Vordergrund stehen, wie z.B. Familiendramen, Psychothriller, Coming – of –age Romane, Liebesgeschichten und Horror.

In seiner extremsten Ausprägung taucht der Leser dann so sehr in die Gedankenwelt der Figur ein, dass er nur noch einem Gedankenfluß lauscht und kaum noch Fakten über die Außenwelt erhält. So einen Absatz nennt man „Stream of consciousness“. James Joyce und Virginia Woolf sind die Vorreiter dieser Technik. Sie trieben es so weit, ganze Romane als einen einzigen langen Gedankenfluß zu schreiben (Ullysses; Mrs Dalloway), was der Grund ist, warum diese Romane als schwer lesbar gelten. Und warum sie gleichzeitig so genial sind.
Ein Stream of consciousness muss aber nicht so lang sein, er kann über wenige Absätze oder Zeilen reichen und dann zu einer objektiveren Beschreibung zurückführen.
Häufig findet man diese bei einem Ich-Erzähler und in der Tat ist der Third Person subjectiv dem Ich-Erzähler sehr nahe (so nahe, dass man problemlos jedes „er“ oder „sie“ in ein „ich“ abändern kann. Auch hier ein guter Trick zum Überprüfen, ob man keine Fehler in der Perspektive gemacht hat.)

Und ihr habt es schon gemerkt: Der Third Person subjective bietet ein hohes Maß der Identifikation des Lesers mit der Figur.
Manche sagen, sogar das höchste.
Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 3


Zusammenfassung: „Third Person subjective“

-        Regeln wie beim Third Person objective
-        Alles wird durch die subjektive Färbung der Sicht der Figur erzählt
-        Beschränkt sich häufig auf eine einzige Figur (Protagonisten)
-         Wenn aus der Sicht mehrerer Figuren, so sollte jede Figur eine eigene, einzigartige Sichtweise auf die Dinge haben (eine eigene „Voice“), die die Figuren klar von einander unterscheidbar macht
-         spielt viel Gedanken/Innenwelt der Figur, stream of consciousness, sehr dicht am „Ich-Erzähler“
-         Vorteil: Sehr hohe Identifikation des Lesers mit der Figur
-         Geeignet für Familiendramen, Psychothriller, Coming – of –age, Liebesgeschichten, Horror – alles mit Fokus auf innerpsychologische Vorgänge

Hausaufgabe:

Nehme den Anfang von „Der Goldene Kompass“ und schreibe die Geschichte von Lyra und ihrem Dämon von Third Person objective in einen Third Person subjective um.
 
Was denkt und fühlt Lyra, wenn sie den Speisesaal betritt? Angst, Vorfreude, Abenteuerlust? Wie beschreibt Lyra die Porträts der Direktoren an den Wänden? Vielleicht als streng dreinblickende, ältere Herren. Oder als aufgeblasene Säcke mit steifen Halskrausen.
Lass deiner Phantasie freien Lauf, erfinde die Figur der Lyra ruhig neu, oder schicke jemand anderen in den gleichen Speisesaal. Wichtig dabei ist nur, dass du übst, allem eine subjektive Färbung zu verleihen.

Nächtes Mal beschäftigen wir uns mit dem Ich-Erzähler, hier.

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