Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil II |
In der Erzählhaltung des Third Person Objective Narrator
erzählt der Erzähler die Geschichte aus der Sicht der Figur, aber er ist nicht
mit der Figur verschmolzen wie beim „Ich-Erzähler“, sondern er schreibt als „er“
oder „sie“. Third Person Erzähler können keinen Blick von außen auf die Figur
werfen, es sei denn, sie betrachtet sich selbst in einem Spiegel.
Der Third Person Narrator hat Einblick in die Gedanken der
Figur, kann also „dachte er/ wünschte sie“ schreiben; aber er beschreibt alles ausschließlich
durch die Augen der Figur, d.h. er kann nur beschreiben was die
Figur sieht und erlebt, nichts was sich an anderen Orten oder Zeiten
abspielt.
Er darf seine Figuren auch nie mit einer Beschreibung benennen
wie „Der Zauberlehrling“ oder „Die Dämonenjägerin“ sondern muss „Buffy“ sagen
oder „sie“, denn er darf als Erzähler nicht werten oder kommentieren.
Beispiel:
Merkst du wie Kafka versucht, alles aus der Sicht der Figur zu beschreiben? Er beschreibt, wie Gregor Samsa an sich selber herunterguckt, alles ist durch seine Augen gesehen, es gibt keine „Kamera“ die von außen auf die Figur guckt. Das ist für diese Geschichte ungeheuer wichtig, denn die Frage ist, ob alles nur in Gregors Einbildung stattfindet oder ob er sich wirklich auf irgendeine magische Art und Weise eines Morgens in einen Käfer verwandelt hat. Ein objective Narrator, der keinen Einblick in die Gedanken einer Figur hat, hätte also diese Geschichte nicht erzählen können.
Anderes Beispiel:
Astrid Lindgren: „Kalle Blomquist“
„Blut! Daran ist nicht zu zweifeln!“ Er starrte durch das
Vergrößerungsglas auf den roten Fleck. Dann schob er die Pfeife in den anderen
Mundwinkel und seufzte. Natürlich war es Blut. Was war denn auch sonst schon zu
sehen, wenn man sich in den Daumen geschnitten hatte? […] Er hob widerstrebend
seinen Blick von dem Blutfleck und schaute aus dem Fenster. Die Hauptstraße lag
träumend und im tiefsten Frieden in der Sommersonne. Die Kastanien blühten. Es
war keine lebendes Wesen zu sehen außer der grauen Katze des Bäckers, die auf
der Kante des Bürgersteiges saß und sich die Pfoten leckte. Nicht dass
allergeübteste Detektivauge konnte etwas entdecken, was darauf hindeutete, dass
ein Verbrechen begangen worden war. Es war wirklich ein hoffnungsloses
Beginnen, in dieser Stadt Detektiv zu sein! Wenn er groß war, würde er, sobald
sich eine Möglichkeit bot, in die Londoner Slumbezirke ziehen. Oder vielleicht
besser nach Chikago?
Der Alte wollte, dass er im Geschäft anfangen sollte. Im
Geschäft! Er ! Ja, das könnte denen so gefallen, allen Mördern und Banditen in
London und Chikago!
Auch hier wieder: Der Blick aus dem Fenster auf die Strasse,
durch das Vergrößerungsglas auf den Blutfleck, alles ist aus der Sicht von
Kalle beschrieben. Der Leser sieht nur, was Kalle sieht, erfährt nur, was Kalle
erlebt. Der Leser lauscht außerdem Kalles Gedanken. Das ist für den Leser so
natürlich, dass es keinerlei Kennzeichnung mit Anführungszeichen oder dem
ständigen Zusatz „dachte er“ braucht.
Noch ein Beispiel:
Der Goldene Kompass. His-Dark-Materials 01
An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen,
schlichen Lyra und ihr Daemon durch den dämmrigen Speisesaal. Die drei großen
Tische, die die ganze Länge des Saales einnahmen, waren bereits gedeckt, die
langen Bänke für die Gäste augestellt, und Tafelsilber und Gläser funkelten im
letzten Tageslicht. Hoch oben an den Wänden hingen die Porträts früherer
Rektoren. Am Saalende angekommen, blickte Lyra zur offenen Küchentür zurück,
und als sie dort niemanden sah, stieg sie zu dem Tisch auf dem Podium hinauf.
Er war mit Gold statt mit Silber gedeckt und statt der Eichenbänke standen dort
samtgepolsterte Mahagonistühle.
Am Platz des Rektors blieb Lyra stehen und schnippte
vorsichtig mit dem Fingernagel an das größte Glas. Der helle Klang war im
ganzen Saal zu hören.
„Das ist nicht der Ort für solche Späße“, flüsterte ihr
Daemon. „Reiß dich gefälligst zusammen.“ […] „Worüber sie heute wohl reden
werden?“, sagte Lyra oder vielmehr wollte sie sagen, denn noch bevor sie die
Frage beenden konnte, hörte sie vor der Tür Stimmen. „Hinter den Sessel –
schnell!“, flüsterte Pantalaimon und schon war Lyra aufgesprungen und kauerte
hinter der Lehne. Der Sessel war allerdings kein gutes Versteck: Er stand in
der Mitte des Zimmers, und wenn sie nicht ganz leise war …
Die Tür ging auf und es wurde hell: Einer der Ankömmlinge
trug eine Lampe, die er auf der Anrichte abstellte. Lyra konnte seine Beine
sehen; sie steckten in dunkelgrünen Hosen und schwarzglänzenden Schuhen – ein
Diener also.
Dieses Beispiel ist ein wenig schwieriger, denn die
Beschreibungen klingen fast so, als könnten sie auch ein Blick von außen auf
die Figur sein. Bei genauerem Hinsehen merkt man aber, dass sie das nicht sind.
Der Autor Phillip Pullmann hat streng darauf geachtet, nur das zu beschreiben,
was von der Figur Lyra auch gesehen und wahrgenommen werden kann. (Die
Hosenbeine des Dieners z.B.)
Der Erzähler beschreibt uns also die Ereignisse anstatt aus
der neutralen Haltung eines Beobachters, aus der Sicht einer Figur. Als solcher
limitiert er sich (und wird deshalb auch manchmal „Third person limited“
genannt), denn er kann nur wiedergeben, was die Figur sieht, spürt und denkt,
nichts was an anderen Orten oder außerhalb der Wahrnehmung der Figur, die
gerade der Perspektivträger ist, stattfindet.
Als solcher kann er also nicht schreiben „Die Tür ging auf
und John betrat den Raum“, wenn Marie mit dem Rücken zur Tür sitzt, sondern er
müsste schreiben: „Marie hörte wie die Tür geöffnet wurde und drehte sich um.
Sie sah, wie John den Raum betrat.“
Die Figur, aus deren Sicht gerade alles beschrieben wird,
kann allerdings wechseln. So kann das eine Kapitel aus der Sicht des Mörders,
das andere aus der Sicht des Opfers und wieder ein drittes aus der Sicht des
Detektivs sein.
Aber Achtung: Die Figur, aus dessen Sicht erzählt wird, darf
niemals von einem Satz auf den anderen wechseln, sondern nur von Kapitel zu
Kapitel; maximal von Szene zu Szene, aber nur wenn der Wechsel klar gekennzeichnet
ist. Ein falscher oder nicht gekennzeichneter Wechsel führt zu sog.
„Headhopping“ und ist ein häufiger Anfängerfehler, der Verlagslektoren übel
aufstößt und den Leser verwirrt.
Um seinen Text auf Richtigkeit zu überprüfen, gibt es einen
Trick:
Man ersetzt einfach alle „er“ durch „ich“.
Das ist in der
„Third Person objective Erzählhaltung“ beinahe reibungslos möglich. Wenn Deiner Einer
nach dem Umstellen ein Satz oder eine Beschreibung auffällt, die ein „ich“ so
nicht hätte sagen können, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Perspektivbruch
und muss gestrichen oder umgeschrieben werden.
Es empfiehlt sich, vorher festzulegen welche Figuren als Perspektivträger
fungieren sollen und sich in der Auswahl zu limitieren, evtl. sogar bei nur einer
einzigen Person (üblicherweise der Hauptfigur) zu bleiben.
Beachte: Wenn deine Perspektivfigur auf eine andere trifft, kann sie nicht wissen, was diese denkt und fühlt und ist auf äußere Merkmale wie Mimik und Gestik angewiesen und auf Vermutungen. Das bedeutet, dass Kalle Blomquist nicht wissen kann, warum seine Freundin Liese - Lotte heute so gereizt ist. Ist sie sauer auf ihn oder hat sie nur Hunger?
Und natürlich kann deine Perspektivfigur sich irren.
Der freundlich lächelnde Onkel Einar kann doch nie und nimmer in ein Verbrechen verwickelt sein, oder?
Falsch gedacht, Kalle ! Er ist ein Juwelendieb und Betrüger !
Beachte: Wenn deine Perspektivfigur auf eine andere trifft, kann sie nicht wissen, was diese denkt und fühlt und ist auf äußere Merkmale wie Mimik und Gestik angewiesen und auf Vermutungen. Das bedeutet, dass Kalle Blomquist nicht wissen kann, warum seine Freundin Liese - Lotte heute so gereizt ist. Ist sie sauer auf ihn oder hat sie nur Hunger?
Und natürlich kann deine Perspektivfigur sich irren.
Der freundlich lächelnde Onkel Einar kann doch nie und nimmer in ein Verbrechen verwickelt sein, oder?
Falsch gedacht, Kalle ! Er ist ein Juwelendieb und Betrüger !
Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 2 |
Obwohl diese Erzählhaltung also personal (aus der Sicht
einer Figur) ist, ist der Erzähler dennoch vorhanden und „neutral“, denn er
beschreibt in einem nüchternen Ton wie ein objective Narrator. Daher nenne
ich diese Erzählhaltung „Third person objectiv“. (Wie es klingt, wenn der
Erzähler seine Objektivität aufgibt, zeige ich euch beim nächsten Mal, beim Third Person Subjektiv.)
In der objektiven Variante herrscht eine gewisse Distanz zum
Erzählten, was den Vorteil hat, dass „Wegwerf- Perspektivträger“ möglich sind (die
in einer Szene auftauchen und in der nächsten bereits wieder sterben; das
widerspricht meinem Rat oben, sich auf wenige Figuren zu limitieren, wird aber im Bereich Thriller häufiger gemacht).
Vor allem Romane mit actionlastigen Plots oder mit Settings die in anderen
Welten oder Zeiten spielen sind häufig in dieser Perspektive. Der
Identifikationsfaktor mit den Figuren ist nicht so hoch, wie in anderen
Erzählhaltungen; aber dennoch (oder gerade deswegen?) ist
diese Erzählhaltung bei vielen Lesern sehr beliebt.
Zusammenfassung: „Third Person objective“
-
Objektiver Erzähler, der aus der Sicht der Figur
erzählt. „er/sie“
-
keine Außenansicht auf die Figur.
-
Hat Einblick in Gedanken oder Gefühle, gekennzeichnet
mit „dachte er/ wollte er/ wünschte er ect.“, aber nur von einer Figur zur
Zeit.
-
Erzähler versteckt; kommentiert/wertet nicht, darf Leser
nicht direkt ansprechen
-
Ausschließlich „reliable“ Erzähler
-
Ist nicht frei in Zeit und Raum, kann nur über
Ereignisse berichten, die die Figur erlebt, ist an eine Figur gebunden.
-
„Er“ kann problemlos durch „ich“ ersetzt werden. (Trick
zum überprüfen)
-
Vorteil: Distanz zum Erzählten, „Wegwerf-Charaktere“
möglich, geeignet für actionlastige Plots und fantastische Settings.
-
Darf seine Figuren nie mit einer Beschreibung nennen(nicht "die Dämonenjägerin", sondern "Buffy")
-
Fordert szenisches erzählen.
Hausaufgabe:
Nehme eines der obigen Textbeispiele oder einen eigenen Text und schreibe ihn um in die in Teil I beschriebene Erzählhaltung des „Objective Narrators“. Beachte,
dass du dabei keinerlei Gedanken und Gefühle der Figuren beschreiben darfst, sondern
alles nur neutral von außen beobachten.
Wo stößt du auf Schwierigkeiten?
Wie kannst du die für den
Leser wichtigen Informationen anders unterbringen?
Übung Nr 2:
Schreibe eine Szene, in der Kalle Blomquist auf eine andere Figur trifft, dieses mal als "Third Person objective".
Liese-Lotte ist hungrig und gereizt und Onkel Einar ist in Wahrheit gar nicht Onkel Einar, sondern ein Juwelendieb und Betrüger.
Wie gestaltet sich das Zusammentreffen dieser Figuren aus der Sicht von Kalle - nur mit Einblick in Kalles Gedanken nicht in die der anderen Figuren?
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