Eine Ringtheorie der Erzählhaltungen, Teil 1 |
Heute will Meiner Einer sich einmal dem schweren Thema
„Erzählperspektive“ widmen, das bei vielen Autoren für Verwirrung sorgt, und
das doch elementar fürs Verständnis des Aufbaus einer Geschichte ist. Die
Theorien und Erklärungen, die man in Schreibratgebern und im Internet finden kann,
sind oft missverständlich, benutzen Begrifflichkeiten unterschiedlich und
widersprechen sich teilweise.
Aus allem, was das Literaturkaninchen bisher zu dem Thema gelesen und
verstanden hat, hat Meiner Einer nun eine eigene Theorie entwickelt:
Scriptdoktors Ringtheorie der Erzählhaltungen.
Zunächst einmal muss man verstehen, dass es drei Instanzen
gibt:
Jede Geschichte hat einen Erzähler (immer!) und es ist der
Erzähler, der mit dem Leser spricht, niemals die Figur und schon gar nicht der
Autor. (Bei einem Ich-Erzähler sind Erzähler und Figur miteinander
verschmolzen, aber dazu später mehr.)
Dies ist ganz wichtig für das Grundverständnis, dass der
Erzähler eine der Geschichte übergeordnete Instanz ist, er befindet sich auf
einer anderen Meta- Ebene, während der Autor noch eine weitere Ebene darüber
schwebt.
Autor
Erzähler -->
Leser
Figur(en)
Der Autor muss sich also, bevor er eine Geschichte
schreibt, Gedanken um seinen Erzähler machen, wer dieser ist und was er kann.
Mit anderen Worten: er muss die Erzählhaltung festlegen.
Dabei gibt es genau zwei verschiedene Möglichkeiten: er kann
entweder
über die Figur
schreiben
oder
aus Sicht der Figur.
Das Spektrum der Erzählhaltungen reicht dann vom Omniscient
Narrator (allwissenden Erzähler) über den Personalen Erzähler bis zum
Ich-Erzähler. Jeder dieser Erzähler hat seine Stärken und seine Schwächen, und
jede dieser Erzählhaltungen erzeugt eine andere Wirkung.
Es macht also Sinn, sich all diese Erzählhaltungen einmal
anzusehen, auszuprobieren und zu meistern.
In der Mitte des Spektrums liegt der „Objective Narrator“
(Objektive Betrachter), und den stelle ich euch heute als erstes vor.
Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil I |
Teil 1: Der „Objective Narrator“
Der Objective Narrator befindet sich in der Mitte des
Spektrums, allerdings steht er im Bereich „Über die Figur“, denn der objektive
Erzähler berichtet über eine Figur objektiv, d.h. von außen betrachtet wie ein
Journalist.
Als solcher kann die Handlung nur ausschließlich durch
direkte Dialoge und Handlung erzählt werden; der Objective Narrator darf
keinerlei Wertung oder Meinung einfließen lassen oder in verklärte
Beschreibungen verfallen.
Er hat keinerlei Einblick in die Gedanken und Gefühle der
Figuren und darf diese auch nicht kommentieren. Das bedeutet, er kann auch
nicht „sie dachte“ oder „er wünschte“ schreiben.
Alle Beschreibungen müssen auf konkreten, äußerlichen Fakten
beruhen – ganz wie ein neutraler Beobachter im richtigen Leben.
Es handelt sich daher in der Fiktion um eine selten benutzte
Variante, denn das Erzählte klingt wie ein sehr nüchterner Bericht oder
Zeitungsartikel.
Ein Beispiel:
„Die Berge jenseits des Ebrotals waren lang und weiß. Auf dieser
Seite gab es weder Schatten noch Bäume, und der Bahnhof lag zwischen zwei
Schienensträngen in der Sonne. Bis dicht an den Bahnhof fiel der warme Schatten
des Hauses, und eine Gardine, die aus Reihen von Bambusperlen gemacht war,
hing, um die Fliegen abzuhalten, vor der offenen Tür, die in die Bar führte.
Der Amerikaner und das Mädchen, das mit ihm war, saßen draußen vor dem Haus an
einem Tisch im Schatten. Es war sehr heiß, und der Expreß aus Barcelona sollte
in vierzig Minuten kommen. Er hielt zwei Minuten an diesem Knotenpunkt und fuhr
dann weiter nach Madrid. „Was wollen wir trinken?“ fragte das
Mädchen. Sie hatte ihren Hut abgenommen und auf den Tisch gelegt. „Schön heiß,
nicht?“ sagte der Mann. „Wir wollen Bier trinken.“ „Dos cervezas“, sagte der Mann gegen
die Gardine. „Große“, fragte die Frau auf der Türschwelle. „Ja, zwei Große."
Ein weiteres klassisches Beispiel ist die Geschichte "The Lottery" von Shirley Jackson. (Wenn jemand einen Link zu einer deutschen Übersetzung dieser Geschichte hat, immer her damit!)
Obwohl ungewöhnlich zu lesen ist bei beiden Geschichten diese
Erzählhaltung bewusst und geschickt gewählt, denn gerade durch den nüchternen
Ton wird das Drama und das Grauen in diesen Geschichten erhöht. (In der ersten
Geschichte geht es um eine Abtreibung in der zweiten um einen grausamen Akt der
Selbstjustiz.)
Zusammenfassung: „Objective Narrator“
-
objektiver Erzähler
-
ausschließlich Außenansicht auf die Figur.
-
Keinen Einblick in Gedanken oder Gefühle der Figuren,
daher auch kein „er dachte/wünschte/wollte“.
-
Erzähler versteckt; kommentiert/wertet nicht, darf
Leser nicht direkt ansprechen
-
Kann den Perspektivträger nicht wechseln, da er nicht
aus der Sicht einer Figur schreibt. Erzähler = Perspektivträger
-
„Unreliable Narrator“ nicht möglich (was das ist,
erkläre ich ein andernmal)
-
Frei in Zeit und Raum, kann über Ereignisse, die
woanders oder zu einer anderen Zeit passieren, berichten, ist nicht an eine
Figur gebunden.
Hausaufgabe:
Um die Erzählperspektiven wirklich zu verstehen, rät Meiner
Einer, den Links zu folgen und sich die Beispiele komplett durchzulesen und zu
verinnerlichen, um sie später mit den anderen zu vergleichen.
In Teil II der Ringtheorie der Erzählhaltungen wenden wir uns der "Third Person" - Erzählhaltung zu und erfahren, wie es klingt, wenn man aus der Sicht der Figur anstatt über die Figur schreibt.
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