Sonntag, 21. April 2013

Erzählhaltungen, eine Ringtheorie. Teil 1: Der Objektive Narrator



Eine Ringtheorie der Erzählhaltungen, Teil 1

Heute will Meiner Einer sich einmal dem schweren Thema „Erzählperspektive“ widmen, das bei vielen Autoren für Verwirrung sorgt, und das doch elementar fürs Verständnis des Aufbaus einer Geschichte ist. Die Theorien und Erklärungen, die man in Schreibratgebern und im Internet finden kann, sind oft missverständlich, benutzen Begrifflichkeiten unterschiedlich und widersprechen sich teilweise.

Aus allem, was das Literaturkaninchen bisher zu dem Thema gelesen und verstanden hat, hat Meiner Einer nun eine eigene Theorie entwickelt: Scriptdoktors Ringtheorie der Erzählhaltungen.
Zunächst einmal muss man verstehen, dass es drei Instanzen gibt:

Jede Geschichte hat einen Erzähler (immer!) und es ist der Erzähler, der mit dem Leser spricht, niemals die Figur und schon gar nicht der Autor. (Bei einem Ich-Erzähler sind Erzähler und Figur miteinander verschmolzen, aber dazu später mehr.)
Dies ist ganz wichtig für das Grundverständnis, dass der Erzähler eine der Geschichte übergeordnete Instanz ist, er befindet sich auf einer anderen Meta- Ebene, während der Autor noch eine weitere Ebene darüber schwebt.

Autor
Erzähler  -->  Leser
Figur(en)

Der Autor muss sich also, bevor er eine Geschichte schreibt, Gedanken um seinen Erzähler machen, wer dieser ist und was er kann. Mit anderen Worten: er muss die Erzählhaltung festlegen.
Dabei gibt es genau zwei verschiedene Möglichkeiten: er kann entweder

über die Figur schreiben
oder
aus Sicht der Figur.

Das Spektrum der Erzählhaltungen reicht dann vom Omniscient Narrator (allwissenden Erzähler) über den Personalen Erzähler bis zum Ich-Erzähler. Jeder dieser Erzähler hat seine Stärken und seine Schwächen, und jede dieser Erzählhaltungen erzeugt eine andere Wirkung.
Es macht also Sinn, sich all diese Erzählhaltungen einmal anzusehen, auszuprobieren und zu meistern.



In der Mitte des Spektrums liegt der „Objective Narrator“ (Objektive Betrachter), und den stelle ich euch heute als erstes vor.


Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil I




Teil 1: Der „Objective Narrator“

Der Objective Narrator befindet sich in der Mitte des Spektrums, allerdings steht er im Bereich „Über die Figur“, denn der objektive Erzähler berichtet über eine Figur objektiv, d.h. von außen betrachtet wie ein Journalist.
Als solcher kann die Handlung nur ausschließlich durch direkte Dialoge und Handlung erzählt werden; der Objective Narrator darf keinerlei Wertung oder Meinung einfließen lassen oder in verklärte Beschreibungen verfallen.

Er hat keinerlei Einblick in die Gedanken und Gefühle der Figuren und darf diese auch nicht kommentieren. Das bedeutet, er kann auch nicht „sie dachte“ oder „er wünschte“ schreiben.
Alle Beschreibungen müssen auf konkreten, äußerlichen Fakten beruhen – ganz wie ein neutraler Beobachter im richtigen Leben.
Es handelt sich daher in der Fiktion um eine selten benutzte Variante, denn das Erzählte klingt wie ein sehr nüchterner Bericht oder Zeitungsartikel.

Ein Beispiel:




„Die Berge jenseits des Ebrotals waren lang und weiß. Auf dieser Seite gab es weder Schatten noch Bäume, und der Bahnhof lag zwischen zwei Schienensträngen in der Sonne. Bis dicht an den Bahnhof fiel der warme Schatten des Hauses, und eine Gardine, die aus Reihen von Bambusperlen gemacht war, hing, um die Fliegen abzuhalten, vor der offenen Tür, die in die Bar führte. Der Amerikaner und das Mädchen, das mit ihm war, saßen draußen vor dem Haus an einem Tisch im Schatten. Es war sehr heiß, und der Expreß aus Barcelona sollte in vierzig Minuten kommen. Er hielt zwei Minuten an diesem Knotenpunkt und fuhr dann weiter nach Madrid. „Was wollen wir trinken?“ fragte das Mädchen. Sie hatte ihren Hut abgenommen und auf den Tisch gelegt. „Schön heiß, nicht?“ sagte der Mann. „Wir wollen Bier trinken.“ „Dos cervezas“, sagte der Mann gegen die Gardine. „Große“, fragte die Frau auf der Türschwelle. „Ja, zwei Große."

Ein weiteres klassisches Beispiel ist die Geschichte "The Lottery" von Shirley Jackson. (Wenn jemand einen Link zu einer deutschen Übersetzung dieser Geschichte hat, immer her damit!)

Obwohl ungewöhnlich zu lesen ist bei beiden Geschichten diese Erzählhaltung bewusst und geschickt gewählt, denn gerade durch den nüchternen Ton wird das Drama und das Grauen in diesen Geschichten erhöht. (In der ersten Geschichte geht es um eine Abtreibung in der zweiten um einen grausamen Akt der Selbstjustiz.)


Zusammenfassung: „Objective Narrator“

-        objektiver Erzähler
-        ausschließlich Außenansicht auf die Figur.
-        Keinen Einblick in Gedanken oder Gefühle der Figuren, daher auch kein „er dachte/wünschte/wollte“.
-        Erzähler versteckt; kommentiert/wertet nicht, darf Leser nicht direkt ansprechen
-        Kann den Perspektivträger nicht wechseln, da er nicht aus der Sicht einer Figur schreibt. Erzähler = Perspektivträger
-        „Unreliable Narrator“ nicht möglich (was das ist, erkläre ich ein andernmal)
-        Frei in Zeit und Raum, kann über Ereignisse, die woanders oder zu einer anderen Zeit passieren, berichten, ist nicht an eine Figur gebunden. 



Hausaufgabe:
Um die Erzählperspektiven wirklich zu verstehen, rät Meiner Einer, den Links zu folgen und sich die Beispiele komplett durchzulesen und zu verinnerlichen, um sie später mit den anderen zu vergleichen.

In Teil II der Ringtheorie der Erzählhaltungen wenden wir uns der "Third Person" - Erzählhaltung zu und erfahren, wie es klingt, wenn man aus der Sicht der Figur anstatt über die Figur schreibt.


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