Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 6 |
Wir machen einen Sprung auf der Skala der Erzählhaltungen
bis ganz an das entgegengesetzte Ende. Aber so sehr entgegengesetzt ist das gar nicht, wie
wir gleich sehen werden.
Während der First Person Omniscient als Ich-Erzähler über
seine eigene Geschichte erzählt, erzählt der Omniscient overt Narrator über
eine andere Figur in der Retrospektive.
Dabei tritt der Erzähler als „Ich“ auf, kommentiert und
wertet, nimmt Ereignisse voraus oder deutet diese an, denn er erzählt aus der
Retrospektive heraus, und weiß daher alles über die Figur und die Ereignisse.
Das „ich“ des Erzählers ist also wie ein Chronist oder Biograph, dabei hat er
aber Kenntnisse über die Figur hinaus, weiß, was auch an anderen Orten oder
Zeiten geschehen ist und kann in die Gedanken jeglicher Figur gucken: nahezu
„gottgleich“ oder „Allwissend“ (=omniscient).
Ein Beispiel:
J.R.R. Tolkien :Der Hobbit: Kinder- und Jugendbuchausgabe
„In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit. Nicht in einem
feuchten, schmutzigen Loch, wo es nach Moder riecht und Wurmzipfel von den
Wänden herabhängen, und auch nicht in einer trockenen kahlen Sandgrube ohne
Tische und Stühle, wo man sich zum Essen hinsetzen kann: nein, die Höhle war
eine Hobbithöhle, und das heißt, es war sehr komfortabel. […] Dieser Hobbit war
ein sehr wohlhabender Hobbit und er hieß Beutlin.[…]
Unsere Geschichte nun handelt von einem Beutlin, der dennoch
in ein Abenteuer hineingeriet und der sich dabei ertappen musste, wie er Dinge
sagte und tat, die ihm niemand zugetraut hätte. Die Achtung seiner Nachbarn mag
er dabei verloren haben, aber er gewann – na, ihr werdet ja sehen, ob er am
Ende auch etwas gewann. Die Mutter des Hobbits, von dem wir reden – aber was
ist ein Hobbit? Ich glaube, ein paar Angaben sind nötig, denn die
Hobbits sind heutzutage selten und gehen
dem Großen Volk, wie sie uns nennen, scheu aus dem Weg.“
Habt ihr das „ich“ in diesem Text gefunden?
Wenn nicht, lest es noch einmal.
Wenn nicht, lest es noch einmal.
Dieser Erzähler weiß also alles über Hobbits: Wie sie leben,
wie sie aussehen, wer mit wem verwandt ist und was die Nachbarn denken. Aber nicht nur das, er weiß auch, was passieren wird und
dass Bilbo Beutlin Dinge tun wird, die ihm niemand zugetraut hätte. Nur, ob er
von seinem Abenteuer erfolgreich und lebendig zurückkehren wird – das
verschweigt er uns vorläufig. Der Spannung wegen, denn die Hauptfigur in einer Erzählung wie dieser kann sehr
wohl sterben.
Es ist kein Zufall, dass J.R.R. Tolkien klingt wie ein
Märchenonkel. Am einfachsten ist es nämlich, sich den Erzähler dieser
Erzählhaltung als genau das vorzustellen, denn aus den Märchen ist sie entstanden ("Es war einmal ..."). Dabei wird dem Leser von Ereignissen über die Figur berichtet; das bedeutet, sie kann von außen betrachtet und
beschrieben werden. Erinnert ihr euch an den Objective Narrator? Der Typ, der sachlich
und kühl wie ein Journalist über etwas berichtet? Genau dem ähnelt der
Omniscient Overt Narrator, denn auch er berichtet Ereignisse wie ein Beobachter
von außen – mit dem Unterschied, dass er nicht sachlich und kühl bleiben muss,
sondern seine eigene Meinung einbringen darf.
Und zusätzlich die Gedanken von jeder Figur kennt. Auch wenn er sie uns vielleicht nicht immer mitteilt: Der omniscient Narrator weiß alles über die Gedanken und Gefühle von jeder Figur in der Geschichte. Er kann sich entscheiden, uns die Mimik und Gestik eines Gegenübers zu beschreiben, oder die Gedanken nacherzählen, gekennzeichnet mit „dachte er/ wollte sie/ hoffte der Hobbit“. Das Kennzeichnen ist wichtig, damit der Leser weiß, um wessen Gedanken es sich handelt.
Dieser Märchenonkel, der da gerade erzählt, sollte wie eine weitere Figur vom Autor behandelt werden. Alter, Bildung, Charakter der Erzählerfigur kann große Auswirkungen auf die „Voice“ haben und somit prägend für den Stil der Geschichte sein. (siehe First Person omniscient)
Mischt der Erzähler sich viel ein? Befürwortet oder verurteilt er die Taten der Hauptfigur? Hat er einen sarkastischen Ton, ist er ehrlich oder flunkert er wie Käptn Blaubär?
Und zusätzlich die Gedanken von jeder Figur kennt. Auch wenn er sie uns vielleicht nicht immer mitteilt: Der omniscient Narrator weiß alles über die Gedanken und Gefühle von jeder Figur in der Geschichte. Er kann sich entscheiden, uns die Mimik und Gestik eines Gegenübers zu beschreiben, oder die Gedanken nacherzählen, gekennzeichnet mit „dachte er/ wollte sie/ hoffte der Hobbit“. Das Kennzeichnen ist wichtig, damit der Leser weiß, um wessen Gedanken es sich handelt.
Dieser Märchenonkel, der da gerade erzählt, sollte wie eine weitere Figur vom Autor behandelt werden. Alter, Bildung, Charakter der Erzählerfigur kann große Auswirkungen auf die „Voice“ haben und somit prägend für den Stil der Geschichte sein. (siehe First Person omniscient)
Mischt der Erzähler sich viel ein? Befürwortet oder verurteilt er die Taten der Hauptfigur? Hat er einen sarkastischen Ton, ist er ehrlich oder flunkert er wie Käptn Blaubär?
Cervantes:
Don Quichotte
Die Ankündigung „dass in dieser Erzählung nicht um einen Punkt von der Wahrheit abgewichen wird“, sollte einem Warnung genug sein, diesem Erzähler nicht alles zu glauben, was kommt. Manchmal verbirgt sich in dieser Erzählhaltung ein unreliable Narrator. Wenn wir uns nun Gedanken darüber machen, wer der Erzähler ist, wo und warum er uns diese Geschichte erzählt, dann können wir uns auch Gedanken machen, woher er Kenntnis von all diesen Ereignissen hat. Der Erzähler von Don Quichotte sagt z.B. „denn hierin waltet einige Verschiedenheit in den Autoren, die über diesen Kasus schreiben“, deutet also an, dass es mehrere Quellen gibt, die schon vor ihm über diese Ereignisse berichtet haben. Da er dieses Quellenmaterial anscheinend kennt, vertrauen wir auf seine Sachkenntnis. Sollte dieser „Experte“ dann nicht auch die Höflichkeit haben, sich uns mit Namen vorzustellen?
Warum nicht!
Beispiel aus Thomas Mann: "Doktor Faustus"
”Mit aller
Bestimmtheit will ich versichern, daß es keineswegs aus dem Wunsche geschieht,
meine Person in den Vordergrund zu schieben, wenn ich diesen Mitteilungen über
das Leben des verewigten Adrian Leverkühn, dieser ersten und gewiß sehr
vorläufigen Biographie des teuren, vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten,
erhobenen und gestürzten Mannes und genialen Musikers, einige Worte über mich
selbst und meine Bewandtnisse vorausschicke. Einzig die Annahme bestimmt mich
dazu, daß der Leser ‑ ich sage besser: der zukünftige Leser; denn für den
Augenblick besteht ja noch nicht die geringste Aussicht, daß meine Schrift das
Licht der Öffentlichkeit erblicken könnte, ‑ es sei denn, daß sie durch ein
Wunder unsere umdrohte Festung Europa zu verlassen und denen draußen einen
Hauch von den Geheimnissen unserer Einsamkeit zu bringen vermöchte; ‑ ich bitte
wieder ansetzen zu dürfen: nur weil ich damit rechne, daß man wünschen wird,
über das Wer und Was des Schreibenden beiläufig unterrichtet zu sein, schicke
ich diesen Eröffnungen einige wenige Notizen über mein eigenes Individuum
voraus, ‑ nicht ohne die Gewärtigung freilich, gerade dadurch dem Leser Zweifel
zu erwecken, ob er sich auch in den richtigen Händen befindet, will sagen: ob
ich meiner ganzen Existenz nach der rechte Mann für eine Aufgabe bin, zu der
vielleicht mehr das Herz als irgendwelche berechtigende Wesensverwandtschaft
mich zieht.“
Im folgenden stellt er sich mit Namen und vor und erklärt
auch, wie er zu der Hauptfigur des Adrian Leverkühn (von dessen Leben und
Leiden die Geschichte handelt) stand: Er war nämlich sein Freund und kannte ihn
gut. Somit kann der Erzähler zu einem Teil der Handlung werden oder sogar
in das Geschehen verwickelt sein. Dabei kann er aber auch seine Teilnahme an dem
Geschehen leugnen oder herunterspielen.
(Nimmt der Erzähler eine große Rolle an dem Geschehen ein,
wird er zu einem „Watson Charakter“ – eine Sonderform, die ich euch später noch
vorstellen werde.)
Wir haben es hier also mit einem Ich- Erzähler zu tun, der
aber nicht über sich selbst, sondern über eine andere Figur berichtet. Dabei
kann es notwendig sein, dass der Erzähler immer einmal wieder Einschübe mit
Erklärungen geben muss, wo er sich zu dem Zeitpunkt der Handlung befunden hat
und wie er von Ereignissen, an denen er nicht beteiligt war, im Nachhinein
Kenntnis bekommen hat. Eine recht komplizierte Erzählkonstruktion also. Nimmt
der Erzähler sich aber zurück (wie im Falle J.R.R.Tolkiens), nennt keinen Namen oder Quellen – glauben wir ihm dennoch(oder gerade deshalb?), dass er alles über Hobbits und das
Auenland weiß.
Doch auch wenn er sich uns nicht namentlich vorstellt: der Erzähler in „Der Hobbit“ tritt offen in Erscheinung („ich“), = Overt. Streicht man alle „ichs“ aus dem Text, und unterlässt es, den Leser direkt anzusprechen, so landet man beim "Omniscient non overt Narrator".
Und von dem handelt es beim nächsten Mal.
Doch auch wenn er sich uns nicht namentlich vorstellt: der Erzähler in „Der Hobbit“ tritt offen in Erscheinung („ich“), = Overt. Streicht man alle „ichs“ aus dem Text, und unterlässt es, den Leser direkt anzusprechen, so landet man beim "Omniscient non overt Narrator".
Und von dem handelt es beim nächsten Mal.
Zusammenfassung: „Omniscient Overt Narrator“
-
Erzähler, der über die Figur erzählt und nicht objektiv
sein muss.
-
Außenansicht auf die Figuren.
-
Hat Einblick in Gedanken oder Gefühle aller Figuren,
gekennzeichnet mit „dachte er/ wollte er/ wünschte er ect“.
-
Erzähler tritt in Erscheinung; d.h. er stellt sich vor/
benennt sich als „ich“, kommentiert/wertet, darf Leser direkt ansprechen.
-
Unreliable Erzähler möglich.
-
Ist frei in Zeit und Raum, kann über Ereignisse
berichten, die die Figuren nicht erleben, ist nicht an eine Figur gebunden,
kann auf Wissen zugreifen, dass die Figur nicht hat. Kann, aber muss nicht
belegen, woher er diese hat.
-
Darf eigene Gedanken äußern.
-
Muss eine deutliche eigene „Voice“ haben, z.B.
ironische, sarkastisch, frech.
-
Der Erzähler kann in das Geschehen verwickelt sein.
Streiche alle „ich“ aus dem Romananfang von „Der Hobbit“.
Welche
Informationen fehlen jetzt und wie kannst du sie anders unterbringen? Schreibe
um.
Welche Version gefällt dir besser und warum?
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