Das Gesetz der Serie Teil 6: Cliffhanger |
Ein großartiges Stilmittel, um Spannung zu erzeugen, ist der
sog. Cliffhanger.
Der Begriff wurde in amerikanischen Filmen geprägt und meint
wortwörtlich, einen Protagonisten, der von einer Klippe hängt und sich nur noch
mit letzter Mühe festhalten kann und droht, in der nächsten Sekunde
abzustürzen. In dieser (scheinbar) ausweglosen Lage wird der Zuschauer hängen
gelassen, denn die Handlung schneidet zu einer anderen Figur über, so dass man
zunächst im Unklaren gelassen wird, ob und wie die Hauptfigur diese
lebensbedrohliche Lage überlebt.
Der allererste Cliffhanger der Geschichte war aber kein
Filmheld, sondern die Romanfigur Henry Knight aus Thomas Hardys „Blaue Augen“:
Über weite Teile des Buches lässt Hardy seinen Helden in Lebensgefahr über dem
Abgrund schweben und die Leser mit Spannung verfolgen, wie seine Retter auf dem
Weg zu ihm sind, ohne zu wissen, ob diese es rechtzeitig schaffen oder nicht.
Diese Art von Cliffhanger wurde wieder und wieder kopiert
und funktioniert nicht nur mit Abstürzen über meterhohen Klippen, sondern mit
jeder Art von Lebensgefahr: Auf den Protagonisten gerichtete Schusswaffen, sich
nahende Züge, abstürzende Flugzeuge, zu entschärfende Bomben, sich
herabsenkende Fallbeile … der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, wie man
seinen Protagonisten in eine lebensbedrohliche Lage versetzen kann. Auf dem
Höhepunkt einer Szene mitten in der größten Gefahr lässt man den Leser im
Unklaren über den Ausgang und widmet sich - oft über mehrere Kapitel - einem
anderen Handlungsstrang oder einer anderen Figur. Dies hat den
nervenaufreibenden Effekt, dass der Leser vor Spannung auf seiner Sesselkante
hibbelt und auch während der neue Handlungsstrang einem eigenen Höhepunkt
zustrebt und eventuell auch diese Figur in eine lebensbedrohliche Lage führt,
wird der Leser immer im Hinterkopf das Schicksal der Hauptfigur behalten, und
ungeduldig darauf warten, dass der Haupthandlungsstrang weiterläuft und man ihn
von der Ungewissheit um das Leben des Helden erlöst.
Auf diese Art und Weise kreiert man das, was als Pageturner
bezeichnet wird: Eine Handlung, die vor Spannung den Leser in Atem hält.
Cliffhanger am Ende - Spannung garantiert
Cliffhanger können auch am Ende eines Romans oder Films
gesetzt werden, um sicherzustellen, dass die Leser/Zuschauer wiederkommen. Dies
ist ein häufiges Stilmittel von Serien. Unzählige
US-amerikanische Kinoserien (Serials) der 1930er Jahre (z.B. Flash Gordon, Buck
Rogers) setzten diese Form plakativer Zuspitzung ein. Diese Filme waren üblicherweise
etwa 30 Minuten lang und wurden wöchentlich wechselnd vor dem eigentlichen
Hauptfilm gezeigt. Wollte der Zuschauer die Handlung der Serie mitbekommen,
musste er jede Woche ins Kino gehen, egal welcher Hauptfilm folgte.
Pearl White als Pauline in "The Perils of Pauline" |
Nicht umsonst nahm der Cliffhanger seinen Anfang bei Thomas
Hardy, einem Autor von Fortsetzungsromanen (Serials), die in Magazinen oder
Zeitschriften erschienen, vor allem im Bereich der Trivialliteratur wie z.B.
bei Charles Dickens, Sir Arthur Conan Doyle und Mark Twain. Die
Cliffhanger-Szene am Ende einer Folge garantierte, dass die Leser die
Fortsetzung in der nächsten Ausgabe von "Tinsels Magazine" kauften, und übernächsten und
über-übernächsten ...
Noch heute ist dies ein beliebter Trick, um Zuschauer und
Leser bei der Stange zu halten.
Aber Vorsicht: Schon so manche Serie wurden abgesetzt, bevor
es zur Auflösung des Cliffhangers kam, so dass Fans nie erfahren haben, was aus
ihrem Held geworden ist, wie z.B. bei dem Film Charlie staubt Millionen ab (The
Italian Job, 1969), weil sein Ende ein „Cliffhanger“ im wörtlichen Sinne ist,
eine zunächst geplante Fortsetzung aber nie gedreht wurde.
Oft arbeiten die Autoren mit extremen Überraschungen in
der Handlung und mit brenzligen Situationen, in denen das Leben eines oder
mehrerer der Hauptcharaktere in Gefahr ist. (So ist es für die Produzenten auch
möglich, Darsteller wegen überhöhter Honorarforderungen in der Staffelpause
ausscheiden zu lassen.)
Auch moderne Fernsehserien wie „Walking Dead“, „Breaking
Bad“ oder „Lost“ arbeiten sehr viel mit Cliffhangern.
Natürlich weiß man, dass die Hauptfigur (höchstwahrscheinlich)
überleben wird. Was wäre die Serie ohne ihren Hauptdarsteller? Pauline in The
Perils of Pauline wird in jedem Fall überleben, ist doch klar. Die Spannung kann aber auch daraus
generiert werden, dass man wissen will, wie sich der Held dieses Mal wieder
rettet.
Cliffhanger von Kapitel zu Kapitel und von Szene zu Szene
Es muss aber nicht immer gleich das Leben auf dem Spiel
stehen.
Cliffhanger funktionieren nicht nur als ganz großes Spannungselement
am Ende eines Romans/ einer Folge, sondern auch am Ende eines Kapitels oder einer
Szene. Der Held muss nicht jedes Mal in Lebensgefahr schweben, um einen
Cliffhanger-Moment zu erschaffen, es reicht eine Verzögerung, die den Leser im
Unklaren lässt. So kann eine Szene oder ein Kapitel mit einer unbeantworteten
Frage enden oder mit einer mysteriösen Dialogzeile, die im Raum stehen gelassen
wird. Man lässt einfach eine Handlung unbeantwortet, indem man die Reaktion der
Hauptfigur dem Leser vorenthält. Wie wird er darauf antworten? Was wird er tun?
Die Reaktion darauf kann in der nächsten Zeile/ im nächsten Kapitel erfolgen
(sie kann aber auch ganz weggelassen
werden und erst viele Kapitel später dem Leser enthüllt werden, während man
sich bis dahin einem anderen Handlungsstrang widmet).
Ein Beispiel: „Illuminati“ von Dan Brown
Kapitel 1
(…)Wie betäubt sank er in einen Sessel, wo er für ein paar
Augenblicke in völliger Bestürzung verharrte. Nach und nach wurde sein Blick
vom blinkenden roten Licht des Faxgeräts angezogen. Wer auch immer dieses Fax
geschickt hatte, er war noch in der Leitung … wartete darauf, mit ihm zu
sprechen. Lange Zeit starrte Langdon reglos auf das blinkende Licht. Dann, mit
zitternden Fingern, nahm er den Hörer ab.
Kapitel 2
„Schenken Sie mir jetzt Ihre Aufmerksamkeit?“, fragte die
Stimme des Anrufers.(..)
Eine Szene wird normalerweise anhand der Einheit von Figur,
Zeit und Ort definiert. Hier wurde aber innerhalb einer Szene einfach ein
Kapitelumbruch gesetzt. Der Leser will unbedingt wissen, wer der Anrufer am
anderen Ende der Leitung ist, also liest er weiter.
Billiger Trick?
Kann sein, aber einer der funktioniert. Nicht umsonst fanden
Millionen von Lesern, dass sie dieses Buch nicht aus der Hand legen konnten, obwohl sie vielleicht nicht genau sagen konnten warum.
(Weil sie keinen Kapitelabschluss fanden, der ihnen Ruhe lies, jedes Kapitel,
jede Szene, endet mit einer offen gebliebenen Handlung oder Frage; und sei es
nur die Frage: Wer ist hinter der Tür oder Wer ist am Telefon?). Auf diese
Weise erschafft man einen Pageturner.
Anstatt mit einer offenen Frage kann ein Kapitel/ eine Szene
aber auch einen Cliffhanger schaffen, der mit der Lüftung eines Geheimnisses
oder mit der Verkündung einer großen Entscheidung des Protagonisten/ mit einem
Schwur oder einer überraschenden Wende der Ereignisse endet. Bei dieser Art des
Cliffhangers wird die Spannung dadurch erzeugt, dass der Leser wissen will, wie
die Reaktion des Helden auf diese neue Wendung ausfällt.
Beispiel: Suzanne Collins „Die Tribute von Panem“ (Seite 26 ff)
Kapitel 1
(…) Die Zeit der Ziehung ist gekommen. Effie Trinket sagt,
was sie immer sagt: “Ladies first!“, und geht hinüber zu der Glaskugel mit den
Mädchennamen. Sie greift hinein, taucht ihre Hand tief in die Kugel und zieht
einen Zettel heraus. Die Menge hält den Atem an, man könnte eine Stecknadel
fallen hören, und ich fühle mich elend und hoffe inbrünstig, dass es nicht mein
Name ist, nicht mein Name, nicht mein Name.
Effie Trinket geht zurück zum Podest, streicht den Zettel
glatt und verliest mit klarer Stimme den Namen. Es ist nicht mein Name.
Es ist Primose Everdeen.
Es ist Primose Everdeen.
Kapitel 2
Einmal, als ich reglos in einem Baumversteck darauf wartete,
dass das Wild vorbeikam, bin ich eingenickt. Ich fiel drei Meter tief und
landete auf dem Rücken. Es war, als hätte der Aufprall das letzte bisschen Luft
aus meiner Lunge gepresst, und ich lag dort und kämpfte verzweifelt darum,
einzuatmen, auszuatmen, irgendwas zu tun.
Genauso ergeht es mir jetzt. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie man atmet, bin unfähig zu sprechen, vollkommen fassungslos, während der Name in meinem Schädel herumspringt.
Genauso ergeht es mir jetzt. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie man atmet, bin unfähig zu sprechen, vollkommen fassungslos, während der Name in meinem Schädel herumspringt.
Hier endet Kapitel 1 mit der Verkündung des Namens
derjenigen, die an den gefährlichen Hungerspielen teilnehmen muss - und es ist
nicht der Name der Hauptfigur, der gezogen wird, sondern der ihrer Schwester.
Das kommt einem Todesurteil gleich. Der Leser brennt darauf, zu erfahren, wie
die Hauptfigur (emotional) auf diese Verkündung reagiert. Doch die Reaktion
wird dem Leser vorenthalten, zunächst einmal mit einem Kapitelumbruch und dann mit
einer Mini-Rückblende. Erst dann erleben wir, wie die Hauptfigur sich fühlt.
Diese Szene ist deshalb ein Cliffhanger, weil hier zwar nicht die Hauptfigur
über dem Abgrund schwebt, aber dafür eine ihr nahestehende Figur und weil es
die Hauptfigur zum Handeln zwingt (sie wird sich selbst freiwillig zu der
Teilnahme an den Hungerspielen melden, anstelle ihrer Schwester.)
Solche Mini-Clifhanger können, wenn sie geschickt eingesetzt
werden, enorme Spannung erzeugen und garantieren den Leser bei der Stange zu halten,
während er emotional von einer Szene in die nächste rutscht.
Ein Trick aus der Spannungsliteratur - der funktioniert.
Möglichkeiten für einen Cliffhanger:
Bedrohung/Lebensgefahr
Drohende Katastrophe
Gefährliche Emotionen/ Gefühlsausbruch
Omen/Vorzeichen
Mysteriöse Dialogzeile
Geheimnis enthüllt
Große Entscheidung / Gelübde
Ankündigung eines erschütternden Ereignisses
Wendung/ Überraschung
Offene Frage/ ungelöstes Rätsel
Vielleicht willst Du in einer Deiner nächsten Geschichten
einmal etwas davon ausprobieren?
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