Ein sehr wichtiger Teil des Geschichten-Erzählens ist
zweifelsohne die Erschaffung von unvergesslichen, lebendig wirkenden Figuren.
Wie aber macht man das, wie erschafft man einen Charakter, den Leser ins Herz
schließen und mit dem sie über hunderte von Seiten mitfiebern?
Teil 1: Protagonist
Wir beginnen mit dem Protagonisten,
natürlich, und gehen dann weiter über den Antagonisten,
zu den Nebencharakteren und
unterhalten uns über die Zusammenstellung des Figurenensembles. Denn alle Geschichten beginnen und enden mit
einer Hauptfigur, die auf innere und äußere Zwänge reagiert. Die Hauptfigur ist
die komplexeste Rolle in deiner Geschichte. Alle Nebenfiguren spiegeln eine
Facette deiner Hauptfigur wider (vor allem der Antagonist, aber dazu später
mehr).
Wie also erschafft man eine Hauptfigur?
Wo findet man Inspirationen für neue, originelle Charaktere?
Manchen Autoren fällt als allererstes eine Figur ein, über die sie schreiben
wollen. Sie haben ein Bild oder Gefühl für einen Charakter im Kopf, sehen ihn vielleicht
sogar vor sich oder hören seine Stimme, und von dieser allerersten Inspiration
aus kreieren sie die Handlung um diese Figur herum. J.K. Rowling soll während
einer verspäteten Zugfahrt plötzlich einen Jungen im Zaubermantel vor sich
gesehen haben, von dem sie nur eines wusste: Dass er auf dem Weg zu einer
Zaubererschule war, und dass sein Name HARRY POTTER lautete.
Wir können mit Sicherheit sagen, dass es so ist: Manchmal
marschieren Charaktere einfach in unser Leben und lassen uns nicht mehr los.
Charaktere können aber auch von echten, lebenden Menschen um
uns herum inspiriert werden, die man beobachtet oder gut kennt, und die ein
interessantes Leben führen oder ein außergewöhnlichen Beruf ausüben oder merkwürdige
Ticks haben. Vielleicht schnappen wir an der Supermarktkasse einen Gesprächsfetzen
auf oder du fragst dich, was der Mann mit dem Lederkoffer ganz allein im Zug
nach Paris zu suchen hat. Vielleicht möchtest du aber auch einfach nur über
einen Geheimagenten oder einen Zauberlehrling oder ein krebskranke Mutter
schreiben. Deine Charakteridee deutet dabei schon das Genre und die möglichen
Arten des Hauptkonfliktes an.
Anderen Autoren fällt als erste Inspiration aber eher
Situationen, Probleme und Konflikte ein: Das, worum es in der Handlung gehen
soll. Nun brauchen sie für diesen Konflikt die passende Hauptfigur. Und diese
kann man sich „bauen“, indem man anfängt, Eckdaten für eine passende Figur
aufzulisten (Alter, Beruf, Familienstand, Aussehen, Hobbies usw.) und diese im
Laufe der Zeit immer mehr ausfüllt.
Es ist nicht nötig, so eine Liste im Vorneherein bis ins
Detail auszufüllen. Solche Charakterbögen können aber nützlich sein, wenn man
sie beim Schreiben weiter ausfüllt, um einen Überblick zu behalten,
besonders bei Serien und Werken mit einem hohen Figurenpersonal. Ich würde dazu
raten, sich eigene Charakterbögen anzulegen mit den Daten, die man braucht, und
diese je nach Projekt anzupassen (Fantasy/ SciFi braucht andere Merkmale als
Gegenwarts-Charaktere z.B.).
Einen solchen Charakterbogen von SCRIPTDOKTOR findet ihr
HIER zum kostenlosen DOWNLOAD.
Bei all den Details, die man sammelt, muss man aber im Auge
behalten, dass die Figur zum Hauptkonflikt passen soll. Sprich ein
Kriminalfall, der gelöst werden soll, braucht einen willigen Detektiv, eine
Liebesgeschichte einen Junggesellen und die Zaubererschule einen Jungen mit
wenig Erfahrung in der magischen Welt. Kleidung, Aussehen, Hobbies sind nur schmückendes
Beiwerk, was viel wichtiger ist, ist die Motivation der Hauptfigur, am Plot
teilzunehmen, mit anderen Worten das WANT & NEED.
Früher oder später muss man sich über die Innenwelt einer
Figur Gedanken machen, ihre Ängste, Träume, Weltanschauungen und Psychologie. Wir
haben uns ausgedacht, wer die Figur ist (z.B. ein Geheimagent), wie sie aussieht,
wo sie lebt und wie ihr beruflicher Werdegang bisher war, aber all das ergibt
nur ein Abziehbild, eine austauschbare Figur, eine Fassade.
Wer ist die Hauptfigur wirklich?
Jetzt ist es an der Zeit, die vielen Schichten der
Persönlichkeit des Charakters auf den Grund zu gehen.
Menschen sind sehr komplexe Individuen, voller Widersprüche
und unkontrollierbarer Emotionen. Niemand ist einfach nur gut oder böse, so wie
niemand einfach nur faul oder fleißig ist, voller Mitgefühl oder grausam. Jeder
von uns hat das breite Spektrum aller menschlichen Gefühle und Emotionen in
sich und ist in der Lage, zu Höchstleistungen aufzusteigen wie auch zu
unvorstellbar egoistischen und hinterhältigen Taten fähig zu sein. Und bei
allem, was wir tun, sind wir auch noch in der Lage, die eigenen Taten und
Gefühle zu hinterfragen und zu analysieren. Wir mögen das eine sagen, doch das
andere denken. Das eine für richtig halten, doch das andere tun. Und das ist
nur die bewusste Schicht, darunter lauert, wie Siegmund Freud postuliert hat,
das Unterbewusste mit seinen Trieben, Instinkten und Reflexen. Wer kennt sich
schon selbst so genau, geschweige denn seinen besten Freund oder Lebenspartner?
Und doch ist es das, was ein Autor tun muss: Seine
Hauptfigur in- und auswendig kennen. Er kennt die tiefsten Ängste, die
geheimsten Gedanken und verborgenen Sehnsüchte seiner Figur und weiß, wie sie
in einer bestimmten Situation handeln wird.
(Manchmal jedoch überrascht die Figur sogar den Autor.
Kreativität verläuft bei jedem anders, und manche wollen ihre Figuren beim
Schreiben entdecken. Das ist in Ordnung! Es ist sehr bereichernd, wenn die
eigenen Figuren auf einmal „zum Leben erwachen“ und Dinge tun und sagen, die
der Autor nicht gewollt hat. Dann kann man nichts weiter tun, als die Finger
auf der Tastatur lassen und mitschreiben, was die Stimme einem diktiert. In
Wahrheit hat hier nur das Unterbewusstsein des Schriftstellers die Regie
übernommen, und das ist gut so. Niemand ist kreativer, als das
Unterbewusstsein, wie wir später noch sehen werden.)
Besonders in Romanen, die in der Ich-Perspektive geschrieben
werden, kennt und erforscht der Autor seine Hauptfigur bis in die Tiefe. Denn
was ist der Roman in der 1. Perspektive anderes als ein sehr langer Monolog
des Protagonisten mit sich selbst/ mit dem Leser? Deshalb sind Ich-Erzähler häufig
„Unreliable Narrators“. Sie
lügen, verschweigen, beschönigen in ihrer Erzählung die Ereignisse, denn sie
sehen alles durch ihre eigene Linse und schämen sich vielleicht für ihre Taten,
sind unehrlich gegenüber sich selbst und kennen vielleicht sogar ihre eigene,
wahre Motivation nicht. (Aber genau durch ihre Auslassungen und Beschönigungen
verrät die Figur sich selbst, der Leser versteht im Subtext das wahre Gesicht
der Figur.)
Beim Lesen einer Geschichte stellen die Leser sich häufig
die Frage: „Wenn ich in derselben Situation wäre, was würde ich tun?“ Aus
dieser Haltung beim Lesen heraus, empfinden sie Mitleid, Sympathie oder
Antipathie einer Figur gegenüber.
Der Autor stellt sich beim Schreiben dieselbe Frage, nur
dass er sich nicht fragt, was er selbst in dieser Situation tun würde (Autoren
sind selten heldenhaft oder mutig wie ihre Figuren), sondern wie diese spezifische
Figur reagieren wird und soll. Einerseits soll die Figur auf eine bestimmte Art
und Weise reagieren und damit die Handlung vorantreiben (Der Privatdetektiv
soll den Fall annehmen), andererseits muss die Figur eine innere Motivation
haben, dieses handlungstechnisch Wichtige auch zu tun. Das WANT und NEED der
Figur muss zu der Handlung passen.
Am Anfang der Handlung hat die Hauptfigur bereits eine
Vorstellung davon, wie sie ihr Leben führen möchte, sie hat Träume und Ideale und
versucht, diese zu erreichen. Doch dann stellt ein Ereignis das bisherige Leben
auf den Kopf und ihre Lebensweise in Frage: Der Catalyst oder Inciting
Incident.
Im Folgenden beeinflussen die Entscheidungen und Taten der Hauptfigur
die Handlung. Das ist es, was sie zur Hauptfigur macht: Sie reagiert nicht nur
auf die Ereignisse, sie beeinflusst diese (passive Figuren vs. aktive Figuren).
Das Ziel/ die Motivation (Want) der Hauptfigur bestimmt,
welche Entscheidungen sie trifft und wie sie handelt. Keine Szene, kein
Dialog, kann geschrieben werden, ohne dass der Autor weiß, was die Hauptfigur
will, denn dieses beeinflusst, wie sie reagieren wird. Ohne Ziel hat die Figur
keine Motivation, etwas zu unternehmen.
Zwar wird das individuelle Ziel einer einzelnen Szene variieren,
aber dieses sind nur Teilerfolge oder Rückschläge auf dem Weg zu einem großen, endgültigen
Ziel.
Was ist das Ziel der Hauptfigur? Das WANT
Diese Frage ist oft gar nicht so leicht zu beantworten.
Meist fällt dem Autor zunächst eine ganze Liste an Zielen für seine Hauptfigur
ein: Sie möchte Frieden, ihre wahre Liebe finden, Erfolg im Beruf,
Selbstfindung und kreative Erfüllung, ein schönes Haus, Gesundheit und Kinder …
Eine solche Liste hilft dem Autor nicht weiter, denn all
diese Ziele sind nicht mit dem Hauptkonflikt verbunden. Genau wie im
richtigen Leben saugt eine Vielzahl an Zielen die Energie aus einem Menschen
und sorgt dafür, dass er am Ende gar nichts erreicht. Eine gut geschriebene Geschichte fokussiert sich auf ein einziges
zentrales Ziel, für das die Hauptfigur all ihre Energie aufwendet. Bis
man nicht ein klares Ziel für die Hauptfigur formuliert hat, das mit dem Hauptkonflikt
verbunden ist und entweder dasselbe oder das Gegenteil dessen bedeutet, was der
Antagonist will, kann man keine Szenen schreiben, die die Handlung
vorantreiben.
Das Ziel muss in manchen Fällen bereits vor dem Inciting Incident existiert haben, aber
meistens beginnt es dort. Etwas passiert, dass das bisherige Leben der
Hauptfigur auf den Kopf stellt; die Hauptfigur muss die Initiative ergreifen,
um ihr Leben wieder in Balance zu bringen. (Möglicherweise weiß die Hauptfigur
nicht sofort, was ihr Ziel ist, sondern braucht noch bis zum Break in Act II, um es
herauszufinden.)
Je nach Genre ist dieses Ziel sehr unterschiedlich, es kann
ein physisches Objekt sein, wie Geld, oder ein Artefakt oder ein Computercode,
manchmal ist es eine Person — eine Geliebte, ein Feind, ein Täter — oft aber
etwas Metaphysisches, wie Rache, Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit.
Der Leser spürt, welches Ziel die Hauptfigur verfolgt,
selbst wenn es nicht explizit ausgesprochen wird. Dennoch ist es
wichtig, dass keine Unklarheit über das Ziel des Protagonisten nach dem Break in Act II besteht.
(Das zentrale Ziel kann sich im Laufe der Handlung ändern,
wenn neue Informationen oder Ereignisse das ursprüngliche Ziel unmöglich
machen, jedoch dienen diese noch immer demselben Zweck.)
Wenn du Probleme hast, das Ziel des Protagonisten zu
benennen, oder es während des Schreibprozesses aus den Augen verlierst, dann
liegt es daran, dass du zu viele Ziele hast. Ist es Liebe oder Rache? Frage
dich: Mit der Erfüllung welchen Ziels
würde die Geschichte enden? Wenn sie ihre wahre Liebe gefunden hat, oder
erst wenn Rache geübt wurde? Kann eines von beiden Zielen unerfüllt bleiben und
deine Geschichte sich dennoch beendet anfühlen? Sollte sie beide Ziele erfüllt
haben und die Geschichte fühlt sich immer noch nicht zu Ende an, dann hast du
das wahre Ziel der Figur noch nicht gefunden — In Wahrheit basiert ein äußeres
Ziel nämlich immer auf einem unterbewussten Bedürfnis (NEED).
Was braucht die Hauptfigur? Das NEED
Bei komplexen Charakteren löst der Inciting Incident zwei Ziele aus: Das WANT und das NEED (das äußere + innere Ziel/
Bedürfnis).
Ein unterbewusstes Bedürfnis steht oft im Gegensatz zu einem
bewusst verfolgten Ziel. (Darum sind wir Menschen ja so komplizierte
Charaktere, die selten sagen, was sie meinen.) Oft glauben wir, etwas aus einem
bestimmten Grund heraus haben zu wollen, aber in Wahrheit entspringt dieser Wunsch
einem tiefen, unerfüllten Bedürfnis, einer Angst oder einem inneren Mangel. Wir
wollen Geld, aber sehnen uns nach Liebe. Wir wollen Erfolg, aber es mangelt uns
an Selbstbewusstsein. Damit der Leser
dieses unterbewusste Bedürfnis spürt, sollten das äußere und innere Ziel in
krassem Gegensatz zueinander stehen. Je tiefer die Wunde, je
widersprüchlicher der Kontrast, desto interessanter die Figur und desto mehr
wird die Handlung eigentlich von diesem starken inneren Bedürfnis der
Hauptfigur angetrieben. Das Unterbewusstsein hat mehr Macht über unsere
täglichen Handlungen als wir glauben.
Und dieses innere
Bedürfnis, das oft einem Trauma, einer schlechten Erfahrung oder einer inneren
Wunde entspringt, muss im Showdown von der Hauptfigur überwunden werden, wenn
sie dem Antagonisten gegenübersteht.
Der Kampf um das
Bewusstwerden und Überwinden dieses Makels, des inneren Bedürfnisses, ist die
notwendige Wandlung der Hauptfigur.
Im wahren Leben ändern wir Menschen uns selten — oder
plötzlich und scheinbar ohne erkennbaren Grund oder Warnung. Die Figuren in
einem Roman sind aber keine Menschen: Sie sind Kunstwerke, Metaphern für das,
was den Menschen ausmacht. Schriftsteller erschaffen Figuren, damit der Leser
einen Einblick und ein tieferes Verständnis in die Menschlichkeit bekommt, und
die Figuren wandeln sich am Ende, um eine Geschichte über das Überwinden
unserer schlimmsten Fehler und Ängste zu erzählen. Deswegen lieben wir
Geschichten.
Deshalb spiegelt der Antagonist immer die Gegenseite des
Protagonisten wider.
Mehr über das Need der Hauptfigur beim nächsten Mal.
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