Mystery, Suspense und Dramatic Irony |
Ich habe ein wenig
nachgeforscht und möchte euch hier meine Erkenntnisse vorstellen:
Es gibt 3 Arten von „Informationstechnik“,
die ihr in jeder Art von Geschichte einsetzen könnt. Die Frage in jeder Story
ist ja, wieviel erzähle ich dem Leser und wieviel halte ich ihm vor? Der Leser
bleibt gemeinhin aus zwei Gründen bei der Handlung:
Neugierde auf
den weiteren Verlauf der Handlung und
Identifikation mit der Hauptfigur.
Nun könnt ihr den Leser auf 3 verschiedene Arten
bei der Stange halten:
Mystery = Der Leser weiß weniger als die
(Haupt-)Figur
Suspense = Der Leser weiß genauso viel wie die
(Haupt-)Figur
Dramatic Irony = Der Leser weiß mehr als die
(Haupt-)Figur
(*Diese Begriffe sind
nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen englischsprachigen Genres, oder mit
anderen Techniken aus dem Drehbuchbereich ect. Sie meinen hier ein Stilmittel,
wie Informationen dem Leser gegeben (oder vorenthalten) werden und sind
angelehnt an Robert McKee Verwendung der Begriffe. Ihr könnt gerne eigene Worte
dafür finden.)
Mystery
Der Leser weiß weniger als die Hauptfigur.
Das bedeutet, der
Erzähler hält dem Leser mit Absicht Informationen vor, macht nur Andeutungen
(vor allem zur Hintergrundgeschichte) und ruft auf diese Weise viele Fragen im
Kopf des Lesers hervor. Mit diesem Stilmittel „Mystery“ spricht man vor allem
die Neugierde des Lesers an. Dadurch dass die Hauptfigur mehr weiß als der
Leser, wird der Leser oft im Unklaren gelassen, was die Hauptfigur plant, wie
sie zu einer Erkenntnis oder einem Hinweis gelangt ist, was in der
Vergangenheit geschehen ist oder welche Leichen sich sonst noch im Keller verbergen.
Durch Auslassungen und absichtliches Verschweigen wird der Leser auf falsche
Fährten gesetzt und das Sammeln von Informationen, die wie Puzzleteile
zusammengesetzt werden müssen, bereiten dem Leser Vergnügen und spannen ihn auf
die Folter. Oft dreht sich die Handlung um ein einziges großes Geheimnis und
die Aufdeckung am Ende ist ein großer Twist.
Am deutlichsten wird dies
natürlich im Krimi angewandt, wo der Meisterdetektiv längst einen Verdächtigen
hat, dem Leser aber nichts von diesem Verdacht mitteilt und er selber anhand
der gesammelten Beweise mitraten muss, bis es zur Auflösung am Ende bei der
Dingfestmachung des Täters kommt. Erst dann verrät der Meisterdetektiv seinen
Lesern, wie er zu seiner brillanten Schlussfolgerung gekommen ist.
Aber auch in anderen
Genres kann die „Mystery“-Technik angewendet werden. So steht in Spannungs-Romanen
häufig der Satz: „Er hatte einen Plan!“,
ohne dem Leser die Details dieses Plans zu erläutern. Man liest weiter, um
herauszufinden, was die Hauptfigur geplant hat und wie sie sich aus ihrer
scheinbar ausweglosen Situation hinausmanövriert.
Diese Technik benutzt man
häufig bei Ich-Erzählern, die dem Leser aus Scham oder Hinterlist Fakten aus ihrer
Vergangenheit vorenthalten, beim Allwissenden Erzähler oder Erzählern, die aus
der Rückschau heraus berichten, und ganz besonders natürlich beim "Unzuverlässigen Erzähler".
Die Leser im Dunkeln zu
lassen und die Figuren mehr wissen zu lassen als den Leser, ist eine sehr gute
Taktik, um zu ködern und neugierig zu machen.
Suspense
Der Leser weiß genauso viel wie die Hauptfigur.
Dies ist wahrscheinlich
die am häufigsten gewählte Spannungstechnik und aus gutem Grund, denn wenn
Leser und Hauptfigur auf demselben Wissensstand sind, kann sich der Leser am
besten mit der Hauptfigur identifizieren. Die Spannung in der Handlung entsteht
aus der Frage „Was wird als nächstes
passieren?“ und lässt den Leser mitfühlen und ihn sich fragen, wie er
selbst sich in dieser Situation verhalten würde. Der Meisterdetektiv
beeindruckt uns durch sein Wissen, aber wir können uns nie ganz mit ihm
identifizieren, deswegen distanziert die Mystery-
Erzähltechnik, wohingegen „Suspense“ uns ganz und gar in die Schuhe der
Hauptfigur versetzt. Diese Form eignet sich besonders für Ich-Erzähler (im
Präsens) oder die personale Erzählform (im Präsens). Jedes Ereignis und jede
Wendung kommt für die Figur genauso überraschend wie für den Leser. Plötzliche
dramatische Ereignisse entfalten hier die größte Wirkung und am meisten
Mitgefühl.
Sobald aber eine weiterer
Perspektivträger außer der Hauptfigur hinzukommt, z.B. durch zwei sich
abwechselnde Figuren (wie häufig in Liebesgeschichten oder Thrillern), begibt
der Leser sich bereits in die Haltung der „dramatic Irony“ (im deutschen auch tragische Ironie genannt). Denn durch
den zusätzlichen Blickwinkel weiß der Leser stets mehr als die einzelne Figur.
Dramatic Irony
Der Leser weiß mehr als die Hauptfigur.
Das bedeutet, dass Leser
in den Ereignissen der Figur voraus sind oder sogar den Ausgang der Handlung kennen.
Während in „Suspense“ der Leser sich
über den Fortgang der Handlung wundert und sich Sorgen um das Wohlergehen der
Hauptfigur macht und sich fragt, wie das alles endet, so bangt der Leser in der
Haltung der „dramatic irony“ bei dem
Wissen um das drohende Schicksal und hat Mitleid für die Hauptfigur. Der Leser
möchte beim Lesen wie im Kasperletheater am liebsten der Figur zurufen: „Tu das nicht!“, während er ohnmächtig
zusehen muss, wie die Hauptfigur der Todesgefahr geradewegs in die Arme läuft.
Was zunächst einmal
paradox klingt (dem Leser zu sagen, was als nächstes passiert oder wie alles
endet) sorgt aber gerade durch dieses Mitwissen zu einem besonders hohen
Spannungsgrad, weswegen diese Technik häufig in Thrillern aber auch in
Dramen/Tragödien Anwendung findet.
Z.B. kann der Erzähler
seine Leser wissen lassen, dass die Figur einen Fehler begeht, er kann
beschreiben, was gleichzeitig an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit
geschieht und was die Bemühungen des Hauptfigur zunichtemachen wird, er kann
die Leser in die Pläne des Antagonisten einweihen oder ihm Blicke in die
Gedanken des Love Interests gewähren
und so verraten, ob der Angebetete Gefühle für unsere Hauptfigur hegt oder
nicht. Er kann die Handlung vorspulen und in einem Flashforward dem Leser Einblicke auf zukünftige Ereignisse gewähren
oder dem Leser alles über den Gegenspieler verraten, was die Hauptfigur nicht
weiß. Dafür braucht es nicht unbedingt einen Allwissenden Erzähler oder einen Ich-Erzähler, der im Rückblickberichtet, auch wechselnde Perspektivträger oder nicht-lineares Erzählen versetzt den Leser in „dramatic irony“.
Diese Technik wird schon
seit vielen Jahrhunderten benutzt, schon in „Oedipus Rex“ befanden sich die Zuschauer
in einer Haltung der tragischen Ironie, denn die Sage, auf der das Stück
beruht, war so bekannt, dass alle im Zuschauerraum wussten, dass Oedipus seine
Mutter schwängern und seinen Vater ermorden wird. Die Spannung entstand daraus,
sich zu fragen, wie es dazu kommen
konnte.
„Wie?“ und „Warum?“ halten
die Neugierde genauso bei der Stange, wie das Grauen um das Wissen, dass etwas
Schlimmes geschehen wird.
Alfred Hitchcock erklärt
den Unterschied in der Wirkung mit einem berühmten Beispiel — der Bombe unter
dem Tisch — in seinem Gespräch mit Francois Truffaut*:
„Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe
unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts Besonderes
passiert, und plötzlich, Bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht.
(..) Die Bombe ist unter dem Tisch und das Publikum weiß es. Nehmen wir an,
weil es gesehen hat, wie jemand sie dort hingelegt hat. Das Publikum weiß, dass
die Bombe um ein Uhr explodieren wird und jetzt ist es 12 Uhr 55 - man sieht
eine Uhr. (…) Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung
beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten
Hochspannung.“ - Francois Truffaut: "Mr Hitchcock, wie haben Sie dasgemacht?“*-Seite 64
(*Alfred Hitchcock nennt
den Unterschied hier „Surprise“ und „Suspense“.)
Diese Technik wird aber
auch viel im Bereich der Komödie eingesetzt, bei der der Zuschauer sich klüger
als die Hauptfigur fühlen darf, und gerade durch seinen Wissensvorsprung — „Tu das nicht, Kasper!“ — zum Lachen
bringt. Der Zuschauer oder Leser erhebt sich über die Figur und sieht die
Blindheit des Charakters gegenüber seiner eigenen Grenzen und Fehler und darf
über die Figur lachen. Gerade weil wir wissen, was kommen wird, lachen wir
schon, bevor es eintritt.
Wie also sieht dieselbe Szene aus in Mystery, Suspense und dramatic irony?
Gehen wir einmal eine Beispielszene durch,
wenden wir die 3 Spannungstechniken an und schauen wie sie dieselbe Szene
anders wirken lassen.
Stellen wir uns vor, wir
haben als Hauptfigur einen Polizisten,
der zu einem Einsatzort gerufen wird, einem großen Haus bei Nacht, in dem sich
ein Axtmörder befinden soll.
Der Polizist ist gewarnt und betritt vorsichtig
den Flur, von dem rechts und links viele Türen abzweigen.
Beispiel Mystery
Mit der Spannungstechnik Mystery würden wir zeigen, wie die
Kamera dem Polizisten folgt, ganz nah hinter ihm oder über seine Schulter
schauend. Wir sehen, wie er vorsichtig den Flur betritt, lauscht, ob er etwas
hört, seine Taschenlampe auf eine offenstehende Tür und die Schwärze dahinter
richtet. Auf dem Boden vor der offenen
Tür sehen wir eine Blutspur, die in das dahinterliegende Zimmer führt. Wir
vermuten, der Axtmörder befindet sich dort, daher schlägt unser Herz schneller,
als der Polizist sich der Tür nähert. Er richtet seine Waffe auf die Türöffnung
und ruft: “Kommen Sie heraus, ich weiß, dass Sie da drin sind!“ Aber während er
das noch tut, schleicht er leise am Türrahmen vorbei, er betritt gar nicht das
Zimmer, sondern ein anderes schräg gegenüber. Er duckt sich, legt an und
erschießt den Axtmörder, der sich im Wandschrank versteckt hatte.
Als seine Kollegen kommen
um die Leiche abzuholen fragen sie ihn: “Woher haben Sie gewusst, wo der Mörder
sich versteckt?“ Und unser Held antwortet: „Ich wusste sofort, dass er mir eine
Falle stellen wollte, als ich sah, dass das auf dem Boden Ketchup war und kein
Blut.“
Beispiel Suspense
Mit der Spannungstechnik Suspense würden wir ebenfalls zeigen,
wie die Kamera dem Polizisten folgt, ganz nah hinter ihm oder über seine
Schulter schauend, vielleicht sogar mit einer wackeligen Handkamera durch seine
Augen. Wir sehen, wie er vorsichtig den Flur betritt, lauscht, hören seinen
aufgeregten Atem. Der Schein seiner Taschenlampe huscht hin und her. Es gibt so
viele Türen und der Axtmörder könnte überall sein. Nach und nach probiert der
Polizist alle Klinken, aber die Türen sind verschlossen. Der Polizist nähert
sich einer offenstehenden Tür und der Schwärze dahinter, die der Schein der
Taschenlampe kaum durchdringt. Er richtet die Waffe auf das Zimmer und wird
beim Eintreten prompt von einer schwarzen Gestalt attackiert, die mit einer Axt
nach ihm schlägt. Ein Kampf entbrennt. Der Polizist kann mit Mühe
und Not einen Schlag abwehren, seine Schläfe blutet, aber er schafft es, den
Angreifer zu überwältigen. Dann ruft er seine Kollegen und lässt den bewusstlos
geschlagenen Axtmörder verhaften.
Dramatic Irony
Mit der Spannungstechnik Dramatic Irony würden wir die Kamera dagegen
vielleicht in dem Haus positionieren. Wir stehen hinter dem Axtmörder, sehen,
wie er hinter der Tür lauert. Von seinem Blickwinkel aus verfolgen wir, wie der
Polizist vorsichtig den Flur betritt. Vielleicht schneiden wir um auf den
Blickwinkel der Polizisten, sehen, wie er die offenstehende Tür und die
Blutspur entdeckt. Er zögert. Wir schneiden zurück auf den Axtmörder und sehen,
wie er hinter der Tür seine Waffe zum Schlag bereit erhebt. Wir möchten dem
Polizisten am liebsten zurufen, er solle nicht das Zimmer betreten. Aber
natürlich tut er es. Es kommt zum Kampf, bei dem der Polizist schwer verletzt
wird, aber am Ende kann er den Mörder überwältigen.
Dreimal dieselbe Szene,
aber sie wirkt dreimal vollkommen unterschiedlich auf uns.
Welche gefällt dir am
besten?
Zwar ist es theoretisch
möglich, für jede Szene eine andere Spannungstechnik zu verwenden, aber besser
ist es, sich auf eine als Stilmittel festzulegen und diese dann durch das
gesamte Manuskript durchzubehalten. Letztendlich hängt es auch von der
Erzählhaltung ab, welche Spannungstechnik überhaupt möglich ist und welche sich
anbietet.
In jedem Fall beeinflusst
es die Atmosphäre und den Erzählstil. Deswegen macht euch doch bei eurer
nächsten Geschichte einmal Gedanken: Sollen eure Leser weniger wissen als die
Hauptfigur, genauso viel oder gar mehr?
Oder achtet doch einfach
mal darauf, womit eure Lieblingsautoren arbeiten und ob eure
Lieblingsgeschichten in Mystery, Suspense oder Dramatic Irony geschrieben sind.
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