Montag, 22. Juli 2013

Teil 7: "Omniscient non overt Narrator"



Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 7


Hast du deine Hausaufgabe vom letzten Mal gemacht und den Hobbit umgeschrieben, so dass keine „ichs“ mehr in dem Text vorkommen?
Herzlichen Glückwunsch, du hast in der Erzählhaltung des Omniscient non overt Narrators geschrieben!
Der Omniscient non overt tritt nämlich nicht in Erscheinung, er ist ein versteckter Erzähler, d.h. er stellt sich nicht vor, benennt sich nicht mit Namen, benutzt kein „ich“ und spricht den Leser auch nie direkt an.
Dennoch ist es ganz eindeutig ein Erzähler, dessen Stimme wir hören.

Ein Beispiel:

 J.R.R.Tolkien: "Der Herr der Ringe "

Als Herr Bilbo Beutlin von Beutelsend ankündigte, dass er demnächst zur Feier seines einundelfzigsten Geburtstages ein besonders prächtiges Fest geben wolle, war des Geredes und der Aufregung in Hobbingen kein Ende.
Bilbo war sehr reich und sehr absonderlich, und seit er vor sechzig Jahren plötzlich verschwunden und unerwartet zurückgekehrt war, hatte man im Auenland nicht aufgehört, sich über ihn zu verwundern. Die Reichtümer, die er von seinen Fahrten mitgebracht hatte, waren mittlerweile zu einer Legende im Auenland geworden, und allgemein glaubte man, was immer die alten Leute reden mochten, dass der Bühl von Beutelsend voller Stollen sei, in denen sich die Schätze häuften. Und wenn das noch nicht für seinen Ruf genügte, dann staunte man über seine ungebrochene Lebenskraft. Die Zeit blieb nicht stehen, aber auf Herrn Beutlin schien sie wenig Wirkung auszuüben. Mit neunundneunzig war er nicht anders als mit fünfzig. Als er neunundneunzig war, sagten die Leute, er sähe noch gut aus; aber unverändert wäre zutreffender gewesen. Manche schüttelten den Kopf und meinten, das sei zuviel des Guten, es sei einfach unbillig, dass jemand (anscheinend) ewige Jugend und obendrein noch (angeblich) unerschöpfliche Reichtümer besitzen sollte.
„Dafür wird er bezahlen müssen“, sagten sie. „Es ist nicht natürlich und wird ein schlimmes Ende nehmen!“

Da sind wir wieder bei unserem Hobbit „Bilbo“.
Und hier im „Herr der Ringe“ findet sich kein „Ich“ eines Erzählers, genau so wie in deiner umgeschriebenen Version des „Hobbits“. (Was? Deiner Einer hat die Hausaufgabe beim letzten Mal nicht gemacht? Tja, jetzt ärgertst du dich, was?)
Der Märchenonkel Tolkien tritt In „Der Herr der Ringe“ zurück und erzählt seine Geschichte, ohne Aufmerksamkeit auf sich als Erzähler zu ziehen.
Trotzdem weiß er alles über Hobbits, das Auenland und Mittelerde. Er kennt die Gedanken und Gefühle aller Figuren, weiß was in Zukunft und Vergangenheit geschieht, welche Helden sterben und welche überleben werden, welche Schlachten verloren und welche gewonnen.
Er hält sich aber mit Wertungen und Andeutungen zurück. Anstatt zu sagen „Diese Geschichte wird ein schlimmes Ende nehmen“, legt der Erzähler seine Andeutungen lieber einer Figur in den Mund: „Dafür wird er bezahlen müssen. Es ist nicht natürlich und wird ein schlimmes Ende nehmen!“


Ein anderes Beispiel:
Irina Korschunow: "Das große Wawuschel-Buch"

„An einem schönen Sommertag, als draußen im Wald die Sonne schien, saßen die Wawuschels in ihrem Berg und horchten.
Übrigens, wer sind die Wawuschels?
Manche Leute behaupten, es gäbe eine Menge Wawuschels. Aber das stimmt nicht. Von den Wawuschels gibt es nur eine einzige Familie:
Den Wawuschelvater,
die gute, dicke Wawuschelmutter,
die Wawuschelgroßmutter, der das Zauberbuch gehört,
den Wawuscheljungen Wuschel,
und das Wawuschelmädchen Wischel mit den grünen Zöpfen.
Die Wawuschels sind klein, winzig klein, wawuschelklein. Aber das ist noch nichts Besonderes. Das Besondere an den Wawuschels sind ihre Haare. Alle Wawuschelköpfe sitzen voller grüner, dicker Wuschelhaare, und diese Haare haben eine nützliche Eigenschaft: Sie leuchten im Dunkeln!“

Der Einschub „Übrigens, wer sind die Wawuschels?“ ist der Einschub eines Erzählers. Er stellt dem Leser eine rhetorische Frage OHNE ihn direkt anzusprechen. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied. Würde er ihn direkt ansprechen „Du fragst dich sicher, was ein Wawuschel ist“ wäre dort auf einmal ein „Du“ vorhanden, dass ein „Ich“ als Gegenüber voraussetzt.
Das Weglassen eines „Ichs“ und das Zurücktreten des Erzählers erfordert feine, subtilere Formulierungen, um dennoch seine Kommentare und Wertungen einfließen zu lassen.
Dennoch oder gerade deswegen, haben die Kommentare und Meinungen dieses Erzählers mehr Gewicht, als die des Erzählers, der in Erscheinung tritt. Hier fragen wir nicht nach Berechtigung und Quellen, wir akzeptieren den Erzähler einfach als Experten und vertrauenswürdig.

Das liegt auch daran, dass dieser Erzähler dem Autoren am nächsten ist.

Es ist die einzige Erzählhaltung in der der Erzähler seine eigene Stimme sprechen lässt und nicht durch den Filter einer Figur spricht. (Und sei es einer gedachten Erzähler – Figur)


Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 7


Die meißten Leser glauben hier, direkt den Autoren sprechen zu hören. (Das stimmt natürlich nicht. Ein Autor verstellt sich beim Geschichten erzählen, genauso wie er sich verstellt, wenn er mit seinem Chef redet, oder seiner Geliebten oder einem Kind. Als Erzähler passt er sich seinem Publikum an: in einem Kinderbuch klingt er gewiss anders, als in einem Thriller.)
Nicht der Autor spricht, sondern ein Erzähler, aber die unverwechselbare Stimme eines Autoren darf hier zu Tage treten. In dieser Erzählhaltung kann der Autor eigene Meinungen und Werte durchscheinen lassen, z.B. in Metaphern und Vergleichen, im Gegensatz zum Personellen Erzähler oder Ich-Erzähler bei dem die Metaphern durch die Sichtweise der Figur geprägt sein sollten.

Deswegen eignet sich diese Erzählweise auch besonders gut für literarische Texte.
Dabei ist der Erzähler scheinbar objektiv, er bemüht sich um eine objektive Sicht auf die Handlung und kommentiert nur indirekt:

Patrick Süßkind: Das Parfum 

„Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Sait-Justs, Fouchès, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen berühmten Finstermännern an Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immoralität, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hätte, sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschränkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterlässt: Auf das Reich der Gerüche.“

Das klingt doch, als würde Herr Süßkind direkt zu uns sprechen, oder? Ist das seine Meinung zu der Epoche des 18. Jahrhunderts?
Aufgepasst, lieber Leser: Der Autor schreibt, was du als Leser denken sollst. Diese Erzählform kann im höchsten Maße subtil und manipulativ sein.

Zusammenfassung: „Omniscient non overt Narrator“



-        Erzähler, der über die Figuren scheinbar subjektiv erzählt.

-        Außenansicht auf die Figuren.

-        Hat Einblick in Gedanken oder Gefühle aller Figuren, gekennzeichnet mit „dachte er/ wollte er/ wünschte er ect.“.

-        Erzähler versteckt; d.h. er stellt sich nicht namentlich vor, aber kommentiert/wertet, darf Leser nicht direkt ansprechen

-        „Unreliable Erzähler“ nicht möglich.

-        Ist frei in Zeit und Raum, kann über Ereignisse berichten, die die Figuren nicht erleben, ist nicht an eine Figur gebunden, kann auf Wissen zugreifen, dass die Figur nicht hat.

-        Nur indirektes kommentieren/ werten möglich

-        Erzähler = Perspektivträger, daher kein Perspektivwechsel möglich, aber natürlich ist es möglich, über mehrere Figuren abwechselnd zu berichten


Was aber, wenn der Erzähler sich zurückhält? Wenn er zwar über die Figuren berichtet, aber nicht wertet, nicht manipuliert, keine Vorausdeutungen vornimmt und sein allwissendes Wissen nicht nutzt?


Dann sind wir beim „Limited omniscient Narrator“, der letzten Erzählhaltung in meiner Ringtheorie der Erzählhaltungen.

Und die gibt’s beim nächsten Mal.










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