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Eine Figur charakterisiert man am besten über das Setting.
Geschichten bestehen ja bekanntlich aus 3 Bausteinen: Plot,
Charaktere und Setting. Alle drei sind miteinander verbunden und bedingen einander.
Und deshalb kann man eine Figur nicht nur über den Plot (wie reagiert sie auf
Eriegnisse?), sondern auch über das Setting charakterisieren.
Das klingt vielleicht erstmal counter-intuitiv, dass man
Charaktere durchs Setting lebendig werden lässt, aber wenn man genauer drüber
nachdenkt, ist es doch so, dass wir alle von unser Umgebung beeinflusst werden.
Die Stadt, in der wir aufwachsen, die Kultur, das Land, die Leute: Alles prägt
uns. Charaktere existieren nicht in einem Vakuum, und das Setting ist all das,
was die Figur umgibt und sie prägt. So kann man Charaktere über ein
außergewöhnliches Setting entwerfen, z.B. auf einem Raumschiff oder in einem
Fantasy-Land, als Bewohner einer exotischen Insel oder Mitarbeiter einer großen
Anwaltskanzlei. Außergewöhnliche Settings bringen außergewöhnliche Charaktere
hervor: Wir blicken als Leser gerne hinter die Kulissen einer Theaterproduktion
oder eines geschlossenen Flughafens, wir schauen gerne einem Anwalt für
Menschenrechte über die Schulter oder einem Jedi-Ritter. Das Setting hat großen
Einfluss auf unsere Figuren.
Und die Figur wiederum reagiert auf das Setting. Der
Tsunami, der im Inciting Incident auf die Stadt zurollt, ist genauso Setting,
wie der Börsencrash, der dafür sorgt, dass der Top-Börsen-Makler seinen Job
verliert und auf der Straße landet. Dass Romeo & Julia sich auf der Party
im Hause Capulet begegnen, ist eine Frage des Settings, denn auch, dass die
Liebenden aus zwei verfeindeten Häusern stammen, ist Setting. Hier bildet das
Setting sogar den Hauptkonflikt: Er ist ein Montague, sie eine Capulet.
Charaktere werden nicht auf Seite 1 geboren, sie kommen mit
einer Meinung und Erfahrungen über das Setting in die Geschichte, sie kennen
die Straßen der Stadt oder hassen ihre Bewohner, sie haben Freunde und Feinde
und noch Schulden beim Barkeeper.
Deshalb charakterisiert man Figuren am besten über das
Setting:
Man beschreibt man alles was sie sehen und alles was
geschieht, durch die Augen der Hauptfigur. Und dabei benutzt man am besten alle
5 Sinne (Hören, Riechen, Sehen, Tasten, Schmecken), gefärbt durch die
persönliche Meinung der Hauptfigur.
(Das gilt natürlich ganz besonders für Ich-Erzähler, aber
auch für den personalen. Sogar der auktoriale Erzähler sollte eine Meinung haben
—eben die des Erzählers.)
Nicht der Autor ist es, der uns beschreibt, wie etwas
aussieht, sondern die Hauptfigur als Perspektivträger.
Mag die Hauptfigur den Geruch seines Arbeitsplatzes, ist es
ihm vertraut oder abstoßend? Erinnert ihn der Anblick der aufgehenden Sonne an
eine verflossene Liebe, oder hasst er den Nieselregen seiner Heimat, sehnt sich
nach einer wärmeren Jacke und seiner verstorbenen Mutter?
Alles, was die Figur denkt, riecht und fühlt
charakterisiert sie.
Anfänger-Autoren denken oft, sie müssten dem Leser
beschreiben, wer die Hauptfigur ist. Aber das ist gar nicht nötig. Die
Hauptfigur (bzw. der jeweilige Perspektivträger) charakterisiert sich selbst,
mit allem, was er sieht und wie er reagiert.
Es ist doch so, dass jeder anders auf ein Ereignis reagiert
und dass jeder etwas anderes wahrnimmt.
Beispiel: Wenn der Privatdetektiv das erste Mal einen Tatort
betritt, wird er anders reagieren, wenn er ein Amateur ist oder ein Profi. Was
sieht er, was fällt ihm auf? Ist es Routine für ihn, Blutflecken auf dem Boden
zusehen, oder dreht ihm der Geruch den Magen um? Interessiert er sich nur für
die Wunden an der Leiche oder deduziert er anhand von dessen Kleidungstil und
den Regenspritzern an den Absätzen, dass das Opfer den Frühzug aus Paddington
genommen hat?
Wir alle leben in
unser eigenen Filterblase, wir nehmen andere Dinge war, als die Menschen unter
uns. Ein Musiker hört die Melodie im Spiel des Windes, ein Geheimagent achtet
auf das nervöse Zucken am Auge seines Gegenübers und eine alleinerziehende
Mutter sieht die schmutzigen Fußabdrücke auf den Fliesen, die der Junggeselle
ignoriert. Durch die Auswahl der Details, die eine Figur wahrnimmt, beschreiben
wir nicht nur die Umgebung, und lassen lebendige Bilder im Auge des Lesers
entstehen, sondern sagen auch etwas über die Figur aus, die sie bemerkt.
Wir erfahren die Welt durch die Augen des Betrachters, also
unser Hauptfigur.
Gehen 3 Leute aus einem Treffen in einem Café miteinander
heraus, so wird jeder verschiedenes in Erinnerung behalten: Der eine hatte nur
Augen für die Kuchenauslage, der andere war beleidigt, dass er nicht als erstes
begrüßt wurde, der dritte rollte innerlich mit den Augen, weil ihm das
Geplapper der beiden anderen auf die Nerven ging.
Jede Figur kommt mit einem Paket an eigenen Meinungen,
Wünschen, Vorurteilen und Unsicherheiten in eine Szene. Man kann dieselbe Szene
aus der Sicht von drei verschiedenen Figuren schreiben und bekommt drei
verschiedene Szenen heraus. Genau das würde ich vorschlagen, macht das mal,
schreibt eine Szene, in der zunächst Judy, dann Jack, dann Jill sich in einem
Café treffen.
Schreibaufgabe:
Wie denkt ihr jetzt, ich weiß doch gar nichts über Judy,
Jack und Jill.
Genau darum geht es ja. Damit eine spannende, dynamische
Szene entsteht, müsst ihr euch was über die Figuren ausdenken. Sie müssen eine
Beziehung zueinander haben — gut oder schlecht — müssen einen Grund haben, sich
zu treffen — oder sich zufällig zu begegnen — und müssen aufeinander reagieren.
Vergesst auch das Setting nicht, was ist das für ein Café, in dem sie sich
treffen, ist es Tag oder spät am Abend, regnet es, in welcher Stadt befinden
sie sich (oder in welchem Jahrhundert). Und was denken die Figuren über diese
Stadt und dieses Café, ist es ihnen vertraut oder sind sie fremd hier, fühlen
sie sich wohl oder lehnen sie die Inneneinrichtung ab?
Alles hat Einfluss auf
die Figur und das, was die Figur über ihre Umgebung und andere Menschen denkt,
charakterisiert sie.
Jetzt versucht in dieser kurzen Szene (ca. 1-2 Seiten) so
viel wie möglich über den Hintergrund der Figur einzubringen (wer sind sie, was
arbeiten sie, wie sehen sie aus, welche Lebensereignisse haben sie schon
durchgemacht). Vergesst nicht, jedesmal durch die Augen des Perspektivträgers
zu schreiben und alles durch seine persönliche Stimme zu färben.
Charakter Voice
Hier kommen wir zum letzten Werkzeug, mit dem man eine Figur
lebendig werden lässt: Durch Charakter Voice.
Charakter Voice ist natürlich, wie eine Figur spricht, ihre
Syntax und sprachlichen Eigenarten. Nicht nur Dialoge sollten von der ganz
persönlichen Art des Figur eingefärbt sein, sondern auch alle Beschreibungen
der Umgebung, denn wir beschreiben immer alles durch die Augen der Hauptfigur
bzw. des jeweiligen Perspektivträgers bei Geschichten mit multiplen
Perspektiven.). Wir haben ja schon gelernt, dass man alles durch die Augen der
Perspektiv-Figur beschreiben sollte, also mit ihren Meinung, Vorurteile,
Abneigungen und Vorlieben. Es gibt Bonus-Punkte, wenn man auch alles andere mit
der ganz persönlichen Stimmlage und Wortwahl des Hauptcharakters beschreibt.
Ganz besonders der Ich-Erzähler lebt nun einmal davon, dass eine Figur uns ihre
eigene Sicht der Dinge mit eigenen Worten erzählt. Häufig ist es genau diese
Stimme, die es ausmacht, dass uns ein Buch so gut gefällt.
(Der Autor kann auch selber eine ganz persönliche Stimme
haben, in der Auktorialen Erzählform darf er mit seinen eigenen Ansichten und
Meinungen glänzen.)
Viele Leser sind von der Erzählstimme eines Buches
angezogen, selbst wenn der eigentliche Inhalt ihnen vielleicht gar nicht
gefällt. Figuren können also auch auf ganz andere Art glänzen.
Hier ein Beispiel: Mickey Spillane „Regen in der Nacht“
*Klicken um zu Vergrößern * |
Ich habe dieses Beispiel ausgewählt, weil es ein sehr gute
Beispiel dafür ist, dass alles durch die Augen der Hauptfigur erzählt werden
sollte. Alles in diesem Absatz ist von der Wahrnehmung und der persönlichen
Meinung der Figur geprägt. Bis hin zur einzelnen Wortwahl.
Zunächst einmal fällt auf, dass die Figur, die da einsam
durch die Nacht wandert, den Regen und die Kälte liebt. Das ist natürlich eine
Charakterisierung. Was sagt es über eine Figur aus, wenn sie nachts einsam und
allein im Regen durch die Stadt wandert? Sehr viel!
Schaut mal, wie oft der Regen und die Kälte erwähnt werden. Was
schließen wir daraus?
- Die
Figur liebt Regen
- die
Figur bemitleidet sich selbst
Was noch?
- Die
Figur wird uns kaum äußerlich beschrieben.
- einfaches Detail
(hochgeschlagener Mantelkragen) reicht aus, um ein Bild im Kopf des Lesers
entstehen zu lassen
- Der Mann ist ein Privatdetektiv.
Wie kommen wir darauf? Das wird nirgendwo explizit gesagt, und doch wissen wir
es anhand seines Verhaltens. Er ist entweder ein Schnüffler oder ein
Krimineller.
- Das Wort „Fluppe“ wird oft
wiederholt. Es ist ein charakterisierendes Detail, wenn eine Figur Umgangssprache benutzt (und
deutet auf ihren sozialen und kulturellen Hintergrund hin).
- Wortwahl wie „Asphaltpfade“ / „Häuserschluchten“:
Die Figur sieht die Stadt als Wildnis
- Der
Privatdetektiv sieht in der Stadt „Ein Dschungel aus Verbrechen und Gewalt“
- Diese Figur fühlt sich von den
anderen Menschen isoliert — beachtet das Wort „eingesperrt“: Er beneidet die
Autofahrer nicht über ihren trockenen, beheizten Innenraum, er findet sie
eingesperrt. Ist dies ein Hinweis darauf, dass die Figur ein Problem mit
geschlossenen Räumen hat? Warum? Hat die Figur früher vielleicht schon einmal
im Knast gesessen?
Solche kleinen Beschreibungen sind nicht willkürlich, die Worte
sind wohlgewählt und präzise auf ihre Wirkung ausgesucht.
Der Leser denkt nicht bewusst darüber nach, warum der Autor
ein bestimmtes Wort ausgewählt hat, oder warum die Autofahrer als eingesperrt
beschrieben werden, er nimmt es als atmosphärische Beschreibung hin. Und das
ist gut so. Wir als Autoren aber haben die Möglichkeit, dem Leser ins
Unterbewusstsein zu telegraphieren, was wir meinen, ohne es direkt sagen zu
müssen.
Es gibt eine Andeutung des (inneren) Konflikts (Dem
Bedürfnis).
- Ahnung,
dass etwas nicht stimmt
- Vielleicht
ist jemand gestorben, Hinweise auf den Tod
- ist die
Figur suizifgefährdet und geht deswegen auf die Brücke?
Ihr findet bestimmt noch mehr.
Aber nicht der Autor ist es, der dem Leser den Tod als
Motiv andeutet; die Figur ist es, die an den Tod denkt und daher ihre
Umgebung mit Worten wie „gottverlassen“ beschreibt.
Wir erfahren in dem kurzen Absatz hier also schon viel über
die Figur, wir kriegen ein ziemlich klares Bild von ihr, und doch wurde
eigentlich nur das Setting beschrieben: Eine Straße bei Nacht in Manhattan im
Regen. Ohne Infodump, ohne dem Leser direkt zu erklären, wer die Figur ist, wo sie
herkommt, welchen Beruf sie ausübt und was ihre Vergangenheit ist.
Das ist Charakterisierung durch Setting.
Der Leser will die Figur Mike Hammer näher kennenlernen.
Mike Hammer beschreibt Manhattan und durch die Details, die
er benutzt, kapieren wir, dass Hammer die Stadt und ihre Bewohner gut kennt,
dass er Straßenwissen hat und dass man ihn kennt. Es ist keine sichere Gegend,
Gestalten lauern in den Hauseingängen, und doch lässt man Mike Hammer in Ruhe.
Was will er nachts auf der Brücke nach Manhattan? Will er
sich selbst gar das Leben nehmen? Wir wissen es nicht, aber wir bekommen in
diesem kurzen Absatz ein Gespür für sein Innenleben und das alles durch Beschreibungen
des Settings durch die Augen der Figur! Achtet mal darauf, wenn ihr das nächste
Mal ein Buch liest, wie das Setting beschrieben wird und gleichzeitig durch die
Wahl der Worte die Hauptfigur beschrieben wird.
Das ist ein kleiner Trick, den ich euch heute beibringen
wollte. Das ist nichts, was man in einer halben Stunde lernt, dafür braucht es
viel Übung. Aber wenn man das kann, wenn man es schafft, seine Beschreibungen
so zu verfassen, dass sie durch die Augen, Gedanken und Gefühle der Hauptfigur
gefiltert werden, dann schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Man lässt die
Szene für den Leser bildhaft entstehen und zusätzlich die Figuren lebendig
werden.
Und das ist ein Trick, wie man Figuren voneinander
unterscheidbar macht:
Wenn ihr mehrere Perspektivträger habt, dann sind es ihre
Meinungen und ihre Sicht auf die Dinge, die Details, die sie im Setting
hervorhebt und wie sie die Umgebung sieht, was diese Figur unterscheidbar macht
von allen anderen Figuren.