Freitag, 14. Juni 2013

Teil 4: "First Person limited"



Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 4

Nun könnte man also in einem Text alle „Er“ durch ein „Ich“ ersetzen und schon hat man einen „Ich-Erzähler“?
Ja, könnte man.

Aber der Ich-Erzähler hat ein paar theoretische Besonderheiten und es macht Sinn, sich diese einmal anzusehen, bevor man sich für diese Form entscheidet.

Diese Erzählhaltung folgt erst einmal den Regeln des „Third Person subjektiv“, alles ist also aus der subjektiven Sicht der Figur beschrieben, es gibt keinerlei Außenansicht oder Einblicke in die Gedanken anderer Figuren; alles muss durch die Sichtweise der Figur gefärbt beschrieben sein. Er ist an eine Figur gebunden, aber mehrere Ich-Erzähler können sich kapitelweise abwechseln.
Entstanden ist diese Form aus dem Briefroman.
Ein Beispiel:

Mary W. Shelly: Frankenstein

"Erster Brief
An Mrs Saville, England
St.Petersburg, 11.Dez. 17—

Es mag dich freuen, zu hören, dass die ersten Schritte jenes Unterfangens, welches Du mit so unheilvollen Vorgefühlen betrachtet, sich bisher unter einem günstigen Sterne vollzogen haben. Ich bin hierorts am gestrigen Tage angelangt und erachte es für meine vordringlichste Pflicht, Dich, teuerste Schwester, meines Wohlergehens zu versichern, sowie meiner wachsenden Zuversicht in den schließlichen Erfolg meines Vorhabens.
Ich befinde mich hier auf einem viel nördlicher gelegenen Breitengrade denn London, und sobald ich durch die Straßen von Petersburg wandle, umfächelt meine Wange eine kalte, von Norden kommende Brise, welche die Nerven erfrischt und mich mit Entzücken erfüllt.
Kannst du dies Gefühl mir nachempfinden? […]
Was mag nicht alles zu erwarten sein, von einem Lande, darin es nimmer Nacht wird?"
Man liest also die privaten Aufzeichnungen/ lauscht den Gedanken eines Menschen wie ein Voyeur, kurz: es handelt sich um einen intimen Einblick in das Leben eines Menschen, wie man ihn normalerweise nicht bekommt, was den ganz besonderen Reiz der Tagebuchform ausmacht.

Eine Geschichte in Form von Briefen zu erzählen, bedeutet aber auch fragmentarisches Erzählen. Der Ich- Erzähler berichtet nur, was er selbst erlebt hat und was ihm wichtig erscheint (er verschweigt oder beschönigt mitunter etwas), daher kann es Lücken in der Erzählung geben, so dass der Leser sich die Handlung selbst zusammen reimen muss.
In dieser Erzählhaltung des „First Person limited“ sind Erzähler und Figur miteinander verschmolzen.
Das bedeutet, die Figur wird zum Erzähler ihrer eigenen Geschichte. Denn wer könnte  die Geschichte von Frankensteins Monster besser erzählen, als das Monster selbst?

Vorsicht! Eine Geschichte zu erzählen, ist eine nicht unbedeutende Aufgabe (nicht wahr?) und man sollte sich als Autor fragen: Ist meine Figur überhaupt geeignet, seine eigene Geschichte zu erzählen? Nicht jede Figur hat die Fähigkeiten und den Charme eines Storytellers!

Desweiteren muss der Autor sich und all seine mühsam erlernten Fähigkeiten zurückhalten und jemand anderen das Steuer überlassen. Jemanden, der vielleicht weniger gebildet, weniger wortgewandt, rüpelhaft oder sogar geistig zurückgeblieben ist. (Das Monster kann ja nicht einmal sprechen!)

Wenn man so eine Figur ans Steuer lässt, kann das so klingen:
Daniel Keyes: “Blumen für Algernon" 
"Fortschritsberich 1
3 Mertz

Dr Strauss sagt fon nun an sol ich aufschreiben was ich denke und woran ich mir erinere und ales was ich erlebe. Wiso weis ich nich aber er sagt es ist wischtisch da mit sie sen ob sie mich nehmen könen. Ich hofe sie nehmen mich weil Miss Kinnian sagt fileich könen sie mich Intelgent machen."

Und hier in diesem Beispiel merken wir es schon: „Voice“ ist alles beim Ich-Erzähler. Der Autor sollte ganz besondere Sorgfalt darauf verwenden, seiner Figur eine eigene Stimme zu verleihen. Der Autor, der Jahre damit verbracht hat, seine eigene Stimme zu finden, seinen Stil zu verbessern und an seinem Ausdruck zu feilen, muss nun hinter einer Figur zurücktreten, alles was er kann beiseite lassen und jemand anderen zu einem eigenen Stil verhelfen.

Keine leichte Aufgabe.

Erst recht nicht, wenn man mehrere Ich-Erzähler einsetzen will, die kapitelweise abwechselnd ihre Sicht der Dinge erzählen sollen, denn dann muss Deiner Einer dafür sorgen, dass alle diese Figuren eine deutliche eigene Sprache haben. Doch wenn dies gelingt, kommen mitunter schöne Bücher dabei heraus. (Beispiel: Jodie Picoult Zerbrechlich: Roman )

Und noch ein paar Sachen gibt es zu bedenken:
Der Ich-Erzähler, der seine eigene Geschichte erzählt, muss zwangsläufig das Ende der Geschichte überleben, denn sonst könnte er nicht von ihr erzählen, richtig? Ein Thriller, bei dem die Spannung darauf beruht, ob die Hauptfigur überleben wird oder nicht, ist also schwer in der Form eines Ich-Erzählers aufzubauen, denn man nimmt damit automatisch vorweg, dass die Hauptfigur überlebt. Oder? (Es sei denn, man benutzt einen Trick und deckt am Ende auf, die Hauptfigur ist ein Geist. Auch das wurde selbstverständlich schon öfter gemacht.)
Dennoch gibt es viele Thriller in der Ich- Form. Wieso?
Geschichten schreibt man normalerweise im Präteritum.
Ein Ich-Erzähler, der seine Geschichte im Präteritum erzählt, erzählt diese zwangsläufig als Rückblick, hat also bereits alle Erlebnisse hinter sich und weiß um den Ausgang.
Um das zu vermeiden kann man seine Geschichte ins Präsenz versetzen. Dies hat nicht nur den Vorteil, dass der Ausgang für die Figur ungewiss ist, es vermittelt dem Leser auch das Gefühl unmittelbar „live“ dabei zu sein.
Hier ein Beispiel für den Einsatz von „Voice“ und Präsenz:

   
"Ich bin also auf dem Weg zur Arbeit und bleibe stehen, um einer Taube zuzuschauen, die im Schnee mit einer Ratte kämpft, und irgend so ein Dödel will mich ausrauben! Mit Knarre natürlich. Er kommt von hinten und drückt sie mir in die Schädelbasis. Sie ist kalt und fühlt sich sogar gut an, nach Akkupressur. „Ganz ruhig, Doc“, sagt er.
Womit das wenigstens erklärt ist. Nicht mal früh um fünf bin ich der Typ, den man überfällt. Ich sehe aus wie das Osterinsel-Standbild eines Hafenarbeiters. Aber der Dödel sieht die blaue OP-Hose unter meinem Mantel und die atmungsaktiven grünen Plastikclogs und vermutet Drogen und Geld bei mir. Und denkt wohl, ich habe einen Eid geschworen, ihm nicht die dödelige Hucke dafür vollzuhauen, dass er mich ausrauben will."
Das Erzählen im Präsenz hat aber auch einen Nachteil: In manchen Situationen fragt man sich, wie es sein kann, dass der Erzähler überhaupt noch die Zeit hat, um mit kühlem Kopf weiter zu berichten. Besonders in Action-Szenen kann es schwer sein für die Figur, den Überblick zu bewahren und weiterhin dem Leser zu beschreiben, was geschieht. Ist dieses ungeschickt gemacht, drängt sich dem Leser gar die Frage auf, wem und warum der Erzähler da eigentlich gerade live berichtet. Die fiktive Illusion zerreißt.

Belässt man dagegen die Sache im Präteritum hat man es mit einem Paradoxon zu tun: Wir tun so, als wüsste die Figur selber auch noch nicht, was ihr geschehen wird, trotz der Vergangenheitsform, in der sie erzählt
Der Leser nimmt dies dem Autor aber zumeist ab.
Damit dieser unausgesprochene Vertrag und die Illusion, die er erzeugt, nicht gebrochen wird, sollte der Ich-Erzähler niemals den Leser direkt ansprechen. „Hör mir zu, ich erzähle dir eine Geschichte …“. Tut er dies, so wandelt er sich zum "First Person omniscient"
Und über den sprechen wir beim nächsten Mal.
Ringtheorie der Erzählhaltungen Teil 4
 
 
Zusammenfassung: „First Person limited“

-        Einblick in Gedanken oder Gefühle einer Figur, die von sich als „ich“ spricht.
-        keine Außenansicht auf die Figur.
-        Ist nicht frei in Zeit und Raum, kann nur über Ereignisse berichten, die die Ich- Figur erlebt, ist an eine Figur gebunden. Aber mehrere Ich-Erzähler können sich kapitelweise abwechseln.
-        Erzähler und Figur miteinander verschmolzen
-        Ich – Figur kann nicht am Ende der Geschichte sterben.
-        Ausschließlich „reliable“ Erzähler
-        Fordert szenisches Erzählen; vor allem, wenn im Präsenz geschrieben wird.
-       „Voice“ sehr wichtig; wechselnden Ich-Erzählern mit eigener Voice.
-       spielt sehr in der Gedanken/Innenwelt der Figur, stream of consciousness, berichtet nur, was ihm wichtig erscheint, fragmentarisches Erzählen.
-      Vorteil: „Live dabei“ – Feeling, Voyeuristischer Einblick in intime Gedanken einer Figur, Briefroman/ Tagebuchform






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen